The Believing Brain

Wieso glauben Menschen an Götter, Aliens, Verschwörungen? Eine Frage, die unsere Gesellschaft im Innersten berührt – und sich doch, zumindest näherungsweise, wissenschaftlich beantworten lässt. Michael Shermer – Neurologe und einstmals selbst fundamentalistischer Christ – ist seit langem ein Vorreiter der amerikanischen Skeptikerbewegung. Mit seinem Buch „The Believing Brain“, leider nie auf Deutsch erschienen, widmet er sich jenem riesigen Komplex des (Aber)Glaubens von der psychologisch-neurologischen Seite.
Shermers allzu plausible Thesen sind ernüchternd: Glaube ist nicht nur so alt wie die Menschheit selbst, sondern aufs Elementarste in unserer Natur verwurzelt, wie immer er sich im Alltag auch äußern mag. Nicht Fakten und Argumente prägen wirklich unsere Weltanschauung, sondern dienen letztlich nur der Rechtfertigung von Überzeugungen, die schon längst da sind. Und schließlich ist durchaus etwas daran, dass Genie und Wahnsinn manchmal nah beieinander liegen, wo doch beides oft in selben Grundlagen wurzelt und bisweilen Charaktere hervorbringt, die brillant-innovativ und abergläubisch zugleich sind.
Im ersten Abschnitt identifiziert Shermer ganz klar verschiedene neurologische Phänomene, die die Grundlage fast jeden (Aber)Glaubens stellen, zuallererst unser genetisches Programm, Muster und Akteure in unserer Umwelt zu erkennen. Evolutionsbiologisch verständlich, bedeutet beides doch im Zweifel eher das Überleben in einer Gefahrensituation, wenn die Bedrohung rechtzeitig erkannt wird. Ebendiese Mustererkennung wird schließlich zur Wurzel irrationalen Aberglaubens, wenn zufällige Korrelationen im Geiste zu Kausalitäten mutieren – von schwarzen Katzen und persönlichen Glücksbringern bis hin zur „alternativen Medizin“ -, während gleichsam der Schluss auf unsichtbare Akteure Götter, Geister und Dämonen hervorbringt. Ebenso ist der Essentialismus, das ist der Glaube an unsichtbare und potentiell übertragbare Eigenschaften von Objekten („Würden Sie die Jacke eines Serienmörders anziehen?“), tief in uns verwurzelt und wahrscheinlich evolutionär zum Schutze vor ansteckenden Keimen entstanden. Nicht zuletzt der Dualismus, der Glaube an einen vom Körper getrennten Geist, ist intuitiv in uns angelegt. So machen zwar letztlich die individuellen Ausprägungen manch einen Unterschied, doch ist letztlich kein Mensch ein rein vernünftiger, sondern jeder grundsätzlich zum Irrationalen prädestiniert. Bei aller Theorie vernachlässigt Shermer auch nicht die exemplarischen Veranschaulichungen – von seinen eigenen Erlebnissen in seiner religiösen Zeit über Halluzinationen beim Extremport bis hin zu spirituellen Erlebnissen persönlicher Bekannter und deren Rezeption.
In einem weiteren Abschnitt wendet Shermer diese Erkenntnisse auf spezifische, weit verbreitete Glaubenssätze an: Gott, Aliens, ein Leben nach dem Tod, politische Überzeugungen. So erfahren wir ganz nebensächlich nicht zuletzt etwas über das mittlerweile gut erforschte Phänomen der Schlafparalyse, dem einst die Vorstellung von Nachtmahren, heute dagegen scheinbare Entführungen durch Außerirdische entspringen, sowie die Frage, was denn eigentlich der neurologische Unterschied zwischen liberalen und konservativen Menschen ist (ein allzu interessantes Lehrstück unterschiedlicher Arten intuitiver Ethik, ohne eine Gruppe von beiden damit kategorisch disqualifizieren zu wollen). Auch klassische Formen von Wahrnehmungstäuschungen kommen zur Sprache.
All dem lässt sich nach Shermer nur mit einem Mittel begegnen: der empirischen Wissenschaft. Wie wissenschaftlicher Fortschritt funktioniert, illustriert er anhand des historischen Wandels unserer Weltbilder – von Galileo Galileis schicksalsgebeutelten Forschungen zum heliozentrischen Weltbild bis zu den Diskussionen der späteren Astronomie über die lange Zeit noch fragliche Existenz anderer Galaxien. Es ist ein interessanter wissenschaftshistorischer Abriss – für meinen Geschmack jedoch einerseits zu ausführlich und andererseits nicht pointiert genug zum ursprünglichen Zweck, der Verdeutlichung wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns.
Ohne Zweifel ist das Themenfeld, dem das Buch sich widmet, bei weitem zu groß für eine einzige Publikation, gleichsam an Theorien und Forschungen wie nennenswerten Beispielen, sodass ein Buch wie Shermers zwangsläufig unvollständig sein muss. Indes gelingt es durchaus, die zentralen Erkenntnisse moderner Wissenschaft zur Natur des (Aber)Glaubens auf den Punkt zu bringen, nicht ohne dabei Ausblicke auf zahlreiche interessante Beispiele und Nebenphänomene zu geben. In dem Maße, wie jene die Grundfesten von Religion, Politik und vor allem Menschenbild erschüttern, scheint es geradezu unvermeidlich, dieses oder ein vergleichbares Buch zu konsumieren, will man zu wirklichem Verständnis unserer Natur, Geschichte und Gegenwart gelangen.