Versunkene Reiche

Siehe auch: Der zwölfte Planet

Wer als Autor über Präastronautik schreibt, wird auf Dauer um die süd- und mittelamerikanischen Kulturen nicht herumkommen – so auch Zecharia Sitchin, der bisher vor allem „bewies“, dass die Sumerer und ihre Nachbarn von Außerirdischen besucht wurden und diese anbeteten. Somit bringt „Versunkene Reiche“ so einige neue Aspekte in den durch zahlreiche Bücher aufgebauten Kosmos der Anunnaki, jener Außerirdischen, die in grauer Vorzeit angeblich die Erde auf der Suche nach Gold kolonialisierten und dabei den modernen Menschen schufen.
Wie in den meisten seiner Bücher beginnt alles recht harmlos und auf dem Boden der wissenschaftlich anerkannten Tatsachen. Die Außerirdischen schweben zwar permanent im Raum, sind über weite Teile des Buches aber eher wenig präsent. Zuerst erfahren wir einiges über die spanische Eroberung Mexikos nach der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus. Sitchin begleitet den Leser durch die Reiche der Azteken, Maya, Tolteken und Olmeken – unabhängig von den gewagten Thesen, die schließlich darauf aufbauen, lernt man so einiges über diese hierzulande kaum bekannten Kulturen und natürlich ihre reichhaltige Mythologie. Besonders faszinierend ist die Ähnlichkeit mesoamerikanischer Mythen mit denen aus dem Nahen Osten – so kannten etwa alle präkolumbischen Kulturen Amerikas einen Sintflutmythos und natürlich sehr ähnliche Götter. Ganz unabhängig von den Außerirdischen ragt auch die unser Weltbild erschütternde Tatsache heraus, dass diverse Statuen und Reliefs dieser Kulturen Menschen mit Bärten zeigen (die amerikanischen Ureinwohner besitzen keinen Bartwuchs) oder auch solche, die nach häufiger Interpretation afrikanische oder (in anderen Fällen) semitische Züge zeigen. Wenn auch im allgemeinen Verständnis der Menschen noch nicht angelangt, so ist doch die Theorie, dass lange vor Kolumbus schon andere außeramerikanische Kulturen (nicht nur die Wikinger) den amerikanischen Kontinent besuchten, mittlerweile vielfach (und spätestens seit Thor Heyerdahl auch experimentell) belegt. Nach Mesoamerika kommen bei Sitchin die Kulturen der Andenregion dran, hier vor allem die Inka, die primitiveren Kleinkulturen in der Nähe und ein postuliertes Reich vor all diesen. Jenes wird vor allem durch Interpretation der dortigen Mythen/Legenden sowie die Existenz geradezu unglaublicher megalithischer Bauten wie etwa Cuzco, Machu Picchu und Tiahuanacu nahegelegt. Spätestens jetzt geht es los mit den Anunnaki-Mutmaßungen. Anhand zahlreicher Ähnlichkeiten, vor allem etwa in den Sprachen und Kalendern, „belegt“ Sitchin, dass es in grauer Vorzeit Kontakte gegeben haben muss zwischen den amerikanischen Kulturen und – wem auch sonst – den Sumerern (Und von wem wurden die wohl geleitet? Richtig, von den Anunnaki).
Sitchin ist ja bekannt dafür, dass er im Gegensatz zu anderen Präastronautikern wie etwa Erich von Däniken nicht bloß Indizien aufzählt, die die Aktivität Außerirdischer belegen (sollen), sondern eine ganze Historie der Erde „rekonstruiert“, einschließlich der handelnden Personen (Göttern) und konkreter historischer Ereignisse. Dies hat Vor- und Nachteile: Einerseits können so komplexe (mögliche) Zusammenhänge aufgezeigt werden, anders als bei bloßer Darlegung einzelner Aspekte – andererseits ist ein gewisser Teil seines Systems ziemlicher Unsinn. Bekanntlich geht Sitchin davon aus, dass der Heimtplanet der Anunnaki Nibiru ist, der unsere Sonne auf einer elliptischen Bahn innerhalb von jeweils 3600 Jahren umkreist. Die Anunnaki hätten auf der Erde nach Gold gesucht, um dieses in ihrer Heimatatmosphäre anzureichern und damit das Auskühlen des Planeten zu verhindern – alles wissenschaftlich sehr grenzwertig (euphemistisch formuliert) und zudem kaum belegt. Wie immer in diesem Genre ist es oberstes Gebot, alles kritisch zu lesen und zu hinterfragen. Das vorliegende Buch hat indes einen Vorteil: Die absurden Thesen, die auch Teil von Sitchins Gesamttheorie sind, sind für die hier behandelten Aspekte von eher geringer Relevanz und lassen sich theoretisch überlesen, ohne den Gehalt des Übrigen negativ zu beeinflussen. Man kann das Buch also auf verschiedenen Ebenen der Glaubwürdigkeit lesen und sich mit den gemäßigteren bzw. besser belegten Theorien ernsthaft auseinandersetzen, während man andere aus gutem Grund nicht ernst nimmt.
Mit Belegen aus Archäologie, Geschichte und Mythologie wird nicht gespart, sodass vieles plausibel, wenn nicht gar zwangsläufig klingt. Problem ist leider nur, dass sich viele der Informationen für Laien kaum überprüfen lassen – hier muss man dem Autor einfach glauben (oder auch nicht) oder ein ganzes Heer an Experten zu Rate ziehen (welche natürlich unvoreingenommen zu sein hätten). Keine dieser Informationen ist wirklich geheim, sie alle sind dem Laien einfach nur nicht bekannt und nur mit einigem Aufwand zu bestätigen (oder zu widerlegen). Herausragend sei hier etwa die Untersuchung der präkolumbischen Kalender und der „Archäoastronomie“genannt, bei der selbst jene an ihre Grenzen des Verstehens stoßen, die sich mit Sitchin schon die ganze sumerische Mythologie angeeignet haben. Nur den Fakt, dass in Amerika immer wieder bärtige und/oder schwarzafrikanische Menschen dargestellt wurden, kann man sich anhand zahlreicher Fotos selbst veranschaulichen. Besonders faszinierend ist auch ein Ereignis, von den Außerirdischen gänzlich unabhängig, das (nach Sitchins Interpretation der Quellen) um 1400 v. Chr. stattfand: Überlieferungen der Inka und benachbarter Völker berichten, dass an einem schicksalsträchtigen Tag die Sonne nicht aufging – für ganze 20 Stunden. Zugleich findet sich im Alten Testament eine Geschichte darüber, dass die Sonne – auf der anderen Seite der Welt, versteht sich – widernatürlich für ebenso lange Zeit schien, anstatt unterzugehen. Die naheliegende Erklärung ist hier, dass die Rotation der Erde für kurze Zeit (z.B. durch die Gravitation eines vorbeiziehenden Asteroiden) angehalten oder verlangsamt wurde; ein Ereignis, das auf beiden Seiten des Globus beobachtet und in die jeweiligen Mythen eingebunden wurde. (Es wundert mich fast, dass Sitchin hier nicht Nibiru verantwortlich macht, sondern nur einen namenlosen anderen Himmelskörper.) So hätten wir schon abseits der Anunnaki drei interessante und zumindest nicht völlig absurde Theorien, die das Buch uns zugänglich macht – das mysteriöse Sonnenereignis, die außeramerikanischen Besucher und das mysteriöse Vorgängerreich der Inka.
Aber natürlich kommen auch die Außerirdischen nicht zu kurz. Was bietet sich als Beleg dafür besser an als die Ruinen von Cuzco, Machu Picchu und vor allem Tiahuanaco bzw. Puma Punku, bei allen dreien die massiven Steine mit solch perfekter Präzision aus dem Fels geschnitten und trotz Gewicht von mitunter über 100 Tonnen über weite Distanzen transportiert. Aufwändig „belegt“ Sitchin, dass sowohl Teotihuacan (in Mexiko, mutmaßlich von den Olmeken errichtet) als auch Tiahuanacu zum Abbau von Metall aus der umliegenden Gegend errichtet wurden; auch die Gründung der anderen Zivilisationszentren in Süd- und Mittelamerika wird unter die Lupe genommen. Interessant und gut dargelegt ist auch die Untersuchung des (nach wie vor umstrittenen) Alters der Ruinenstätte Tiahuanacu am Titicaca-See mit all den verschiedenen Schätzungen aus unterschiedlichen Quellen und Befunden (als Übersicht durchaus wertvoll, zumal sich Sitchin erst später auf genaue Daten festlegt). Erst im letzten Abschnitt des Buches wird all dies mit der expliziten Anunnaki-Theorie verbunden, was zum Nachvollziehen die Kenntnis anderer Bücher Sitchins voraussetzt. Im Endeffekt läuft es darauf hinaus, dass der Gott Quetzalcoatl, auch bekannt als Ningishzida (Sumer) und Thoth (Ägypten) Teotihuacan und somit die mexikanischen Hochkulturen begründete, wobei er mutmaßlich nubische Facharbeiter mitbrachte (die späteren Olmeken), sein Cousin Viracocha/Adad/Ishkur/Tessup indes ein eigenes Metallabbauzentrum in Peru aufbaute.
Letztendlich ein hochinteressantes Buch, auch wenn es durch die vielen Informationen sehr anspruchsvoll ist und unbedingt kritisch gelesen werden muss. Man wird konfrontiert mit vielen Fakten, die durchaus als Allgemeinwissen zählen können, einigen brisante Theorien und einem Schuss Unsinn, der Sitchin-typischen Kombination also. Tendenziell aber eher mehr Fakten und Theorien und weniger Unsinn als in seinen anderen Büchern.

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