Im Krebsgang – das ist eine Novelle (damit es keiner vergisst, steht es auch auf dem Cover) des berühmten, mittlerweile leider verstorbenen Autors und Literaturnobelpreisträgers Günter Grass. Im Zentrum steht der Untergang des Schiffes Wilhelm Gustloff gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und dessen schicksalhafte Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen.
Der Titel des Buches bezieht sich dabei auf den Erzählstil, der nicht wie zu erwarten geradlinig ist, sondern wie ein Krebs immer wieder zur Seite ausschert und so wieder andere Aspekte beleuchtet. (Tatsächlich weckte dies bei Grass im Zeitraum der Entstehung auch Assoziationen mit einem Darm, was aber aus unerfindlichen Gründen zugunsten des letztendlichen Krebses verworfen wurde.) Erzähler und scheinbarer Autor des gesamten Textes ist Paul Pokriefke, ein nach eigener Aussage „mittelmäßiger Journalist“. In dieser Feststellung erkennt man direkt die große, nobelpreisträchtige Genialität des Autors: Indem man einen solchen fiktiven, weniger kompetenten Erzähler zwischenschaltet, können sämtliche eventuellen Unzulänglichkeiten (v.a. stilistischer Art) nicht mehr dem eigentlichen Verfasser zur Last gelegt werden, sind es doch sämtlich bewusst platzierte Stilmittel, die Paul Pokriefkes literarisches „Talent“ illustrieren.
Parallel zu der fiktionalen Geschichte legt Grass/Pokriefke nach und nach die historischen Hintergründe der Schiffskatastrophe dar – wie der Namensgeber Wilhelm Gustloff (ein hochrangiger Nazifunktionär) sein Leben führte und schließlich von dem Juden David Frankfurter erschossen wurde, was es mit diesem David Frankfurter auf sich hat, die Geschichte des Schiffes selbst (erst KdF-Urlaubsschiff, dann im Krieg bewaffnet, schließlich zur Evakuierung von Flüchtlingen genutzt) und nicht zuletzt auch die Biografie des sowjetischen U-Boot-Kommandeurs Alexander Marinescu, welcher die Gustloff dereinst versenken sollte. Zu den tausenden deutschen Flüchtlingen an Bord der Gustloff, von denen viele schließlich ertranken, gehört auch die schwangere Tulla Pokriefke, dem eingefleischten Grass-Fan schon aus den früheren Werken der „Danziger Trilogie“ bekannt. Diese bringt während des Untergangs ihren Sohn Paul, den späteren Erzähler, zur Welt. Jener ist zwar Protagonist, aber innerhalb der Handlung eine ziemlich passive Figur. Jahrzehntelang belästigt ihn seine Mutter damit, ihre Geschichte aufzuschreiben, doch er sucht sein Heil lieber im Verdrängen der Ereignisse. Das ändert sich erst, als er in den 90er Jahren, wo die Haupthandlung angesiedelt ist, im Internet eine Webseite namens blutzeuge.de findet, die Wilhelm Gustloff verherrlicht und hinter der, wie er schließlich herausfindet, sein eigener Sohn Konrad steckt. Dieser diskutiert dort regelmäßig virtuell mit einem anderen Jugendlichen namens Wolfgang Stremplin, wobei beide sich hinter den Identitäten von Wilhelm Gustloff und David Frankfurter verbergen. Schließlich kommt es zu einem Treffen der beiden – und Konrad erschießt seinen virtuellen Gegenspieler.
Es ist immer schwer, Klassiker bzw. Bücher von so angesehenen Autoren zu bewerten. Hat man die Intention überhaupt richtig verstanden, wenn man es einfach nur langweilig findet? Dieses Buch ist langweilig. Ja, wirklich. Das liegt zum einen natürlich an dem Krebsgang-Stil, wodurch man mit unzähligen für die Handlung kaum relevanten Informationen konfrontiert wird und sich schwerlich mit einem Handlungsstrang identifizieren kann. Noch fataler ist aber folgendes: Die Handlung plätschert dahin, entscheidende Ereignisse (etwa der Mord Konrads an Wolfgang Stremplin) kommen gänzlich unerwartet. Es gibt also nichts, was einen zum Weiterlesen animiert, weil man nichts erwartet – der Hauptkonflikt löst sich zum Zeitpunkt seiner Offenbarung bereits auf. Damit dürfte geklärt sein, dass „Im Krebsgang“ bezüglich Unterhaltung nichts zu bieten hat. Gibt man sich Mühe, kann man das doch recht dünne Buch einigermaßen schnell durchlesen, doch nichts fesselt in irgendeiner Weise. Eine Arbeit ist das Lesen, kein Vergnügen. Das einzig vielleicht im Ansatz Spannende ist der Gerichtsprozess am Ende, bei dem man Einblicke in das Seelenleben von Konrad Pokriefke bekommt (immerhin dieser ist eine einigermaßen interessante Figur).
Und wie steht es indes um die Bedeutung, die Intentionen, die sozialkritischen Ansätze und wichtigen Pointen? Schon etwas besser, was man von einem Günter Grass ja auch erwarten dürfte. Herausragend ist etwa die Erkenntnis, dass die deutsche Nachkriegskultur durch Verdrängung ermöglicht hat, dass Neonazis die Deutungshoheit über entsprechende Themen wie etwa den Untergang der Gustloff erlangen – was natürlich nicht schön, ja sogar gefährlich ist. Hinzu kommt der Aspekt, dass der Rechtsextremismus noch immer existiert, dass die Illusion, die Gräuel der Nazizeit könnten niemals wiederkehren, eben das ist, eine Illusion. Und nicht zuletzt wirft das Buch Licht auf ein oft totgeschwiegenes Kapitel der Geschichte, nämlich die deutschen Opfer im Zweiten Weltkrieg, vor allem infolge der Vertreibung aus den Ostregionen und infolgedessen der entsetzlichen Schiffskatastrophe der Wilhelm Gustloff, bei der tausende Flüchtlinge ums Leben kamen. Darf bzw. sollte man darüber schreiben? Darf bzw. sollte das gerade Günter Grass (der als junger Mann kurzzeitig in der Waffen-SS diente, wenn auch er sich später ausdrücklich davon distanzierte); ist er qualifiziert dazu? Unnötige Fragen, die aus einer moralisierenden Betrachtung der historischen Ereignisse resultieren, was, wie ich finde, prinzipiell falsch ist. Tatsachen sind Tatsachen und moralisch vorgeschriebene Ignoranz ein totalitäres, d.h. zu verwerfendes Denkmuster – so meine Meinung, was aber im Kontext der Bewertung dieses Buches kaum etwas zur Sache tut.
Nach Unterhaltungswert und Interpretation bleibt noch ein dritter Aspekt zu klären – Information. „Im Krebsgang“ bietet zweifellos viele historische Fakten, die einen breiten Blick auf die Gustloff-Thematik ermöglichen; die Differenzierung zwischen Fakt und Fiktion ist problemlos zu bewerkstelligen, ohne dass es zu Missverständnissen oder gar Falschinformation kommt. Doch sind die zahlreichen Infos eben in Krebsgang-Manier verstreut, sprich wenig übersichtlich, und zudem in eine Geschichte eingebettet. Als bloße Information kann es die Novelle unweigerlich nicht mit Fachbüchern oder gar Wikipedia aufnehmen, doch das ist ja auch nicht beabsichtigt. Vielmehr geht es darum, zusammen mit dieser Geschichte auch Informationen zu vermitteln, auf die man sonst nicht gestoßen wäre. Doch anders als bei vergleichbaren Büchern, die viele Fakten vermitteln (z.B. denen von Dan Brown), ist es nicht die Geschichte, die den Leser bei der Stange hält, sondern ausschließlich sein Anspruch, dieses Buch, das, weil von Günter Grass geschrieben, ja zwangsläufig großartig sein muss, durchzulesen, weil dies schließlich ein Zeichen von Bildung ist. Und mit diesem Bandwurmsatz, den ein Günter Grass wahrscheinlich eleganter formuliert hätte, endet diese Rezension auch schon fast.
In Kurzfassung: langweilige Handlung ohne die geringste Spannung, ziemlich zäh, wenn auch mit wichtigen Erkenntnissen und vielen unübersichtlich gestreuten Informationen, ein potentieller Klassiker zwar, aber keine allzu große Freude. Wer dieses Buch gänzlich liest, ist wahrscheinlich ein Literaturfreak mit hohem Anspruch (vor allem an sich selbst) oder, wahrscheinlicher, ein Oberstufenschüler, in dessen Lehrplan das Werk steht. Ja, man kann das Buch in der Schule behandeln, denn es ist einigermaßen kurz (dafür umso zäher – was bringt das dann?) und lässt sich auf vielerlei Art analysieren und interpretieren. Wer aber glaubt, damit auch nur einen einzigen Schüler für Literatur zu begeistern, dem fehlt einiges an Empathie.