Ich dürfte nicht der einzige gewesen sein, der in seiner Kindheit Bücher über Dinosaurier durchblättert und fasziniert die lebhaften Bilder dieser ausgestorbenen Tiere betrachtet hat. Natürlich, kein solches Buch kommt ohne derartige Illustrationen aus, überall sehen wir farbenfroh rekonstruierte Urzeitwesen. Doch hinter all dem verbirgt sich, offensichtlich und doch selten bedacht, eine ganz andere Dimension – ein Zweig der Kunst nämlich, der der Darstellung prähistorischer Wesen gewidmet ist, geboren aus Fantasie und Wissenschaft, Imagination und Rekonstruktion – die Paläo-Art.
Zeit, dass sich jemand dieser Kunstform als solcher widmet – und zu unserem Glück hat es jemand getan, Herausgeberin Zoë Lescaze nämlich. „Paläo-Art: Darstellungen der Urgeschichte“ heißt das monumentale Werk, das die Geschichte der prähistorischen Kunst der ganzen letzten zweihundert Jahre aufrollt.
Allein physisch handelt es sich um einen Prachtband – überdimensional groß, unter dem Schutzumschlag ein dicker Einband mit fast an Reptilienhaut gemahnender Oberfläche, dicke Seiten, mehrere überbreite Panoramagemälde zum Ausklappen. Der stolze Neupreis von 75€ ist da allzu verständlich, obgleich jeder Interessent natürlich selbst entscheiden muss, ob es ihm das wert ist.
Inhaltlich besticht das Werk durch eine lebendige Mischung aus Abdrucken der zahlreichen Gemälde und Text, der den historischen Rahmen wiedergibt. Es beginnt mit jener für uns völlig vergessenen Zeit des frühen Interesses an Fossilien, als sich noch niemand für Dinosaurier interessierte, während stattdessen pathetische Darstellungen kämpfender Ichthyo- und Plesiosaurier die Paläo-Kunst beherrschten. Direkt an den Kunstwerken selbst verfolgt das Buch schließlich die frühen Rekonstruktionsversuche von Dinosauriern, vom berühmten Iguanodon, der mehr an einen dicken Leguan mit gehörnter Nase erinnerte, über allzu aufrechte Raubdinosaurier bis hin zu den schon vertrauteren Darstellungen der letzten Jahrzehnte. Es ist eine Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts in der Paläontologie, der Hand in Hand geht mit der Metamorphose ebendieser Wesen, aber auch der wechselnden Kunststile und Persönlichkeiten. Man lernt die großen Künstler kennen, die das Genre prägten, samt ihren teils erstaunlichen Biographien und beeindruckendsten Werken, aber auch die historischen Rahmenbedingungen, die all dies hervorbrachten – seien es die skrupellosen „Bone Wars“ des amerikanischen Fosilienhypes, sei es auf der anderen Seite die Sowjetunion, in der die Paläo-Art, als einziges Kunstgenre von Repressionen und Beschränkungen verschont, eine fast vergessene Blütezeit erlebte. Jede Zeit, jede Kultur, jeder Autor hat einen anderen Zugang zu jenen nie lebendig gesehenen Dinosauriern, Meeresreptilien, Mammuts und Höhlenmenschen – von halb mythischen Darstellungen wie Könige thronender Dinosaurier in der Frühzeit, die bis heute beliebten Kampf- und Tötungsszenen, Heinrich Harders fast schon surrealistische Mosaike bis hin zum mitleidlos-lebendigen Pathos der Saurier und Urmenschen Zdeněk Burians.
Viele der abgedruckten Gemälde wurden nie zuvor reproduziert, ist doch ein Großteil des Korpus (prä)historischer Kunst inzwischen vergessen, unter Geschichte und wissenschaftlichem Fortschritt untergegangen, von der „hohen“ Kunstgeschichte übergangen und geringgeschätzt. Umso magischer ist die Welt, die Lescaze in diesem beeindruckenden Bildband wieder ins Bewusstsein ruft. Ihr Buch ist mehr als bloß Information und Unterhaltung – vielmehr ein Eintauchen in doppelt altehrwürdige Gefilde, das nicht nur Kindheitserinnerungen, sondern buchstäblich Ehrfurcht erweckt.