Das Buch „Mythen und Sagen des Nordens“ von Edmund Jacoby stellt verschiedene Mythen und Sagen des germanisch-keltisch-slawischen Kulturraumes vor, das dürfte aus dem Titel hinreichend hervorgehen. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf den Sagen, also den Erzählungen über Menschen, während die Mythen (Erzählungen über Götter) nur einen recht kleinen Teil einnehmen und mehr dazu da sind, die Hintergründe der Sagen verständlich zu machen. Jeder dürfte schon einmal von Siegfried, Beowulf oder König Artus gehört haben – aber wie steht es mit Cú Chullain, Dietrich von Bern oder Walther und Hildegunde? Allerlei Sagenkreise des europäischen Mittelalters werden in dem Buch behandelt, wobei insbesondere die weitverzweigten Verbindungen sichtbar werden – etwa dass das Nibelungenlied neben der Siegfriedsage auch an Dietrich von Bern oder Wieland den Schmied anknüpft, zwei ebenfalls bedeutsame, aber eigentlich eigenständige Sagenhelden.
Freilich finden sich sicher viele Werke, die auf mehr oder minder unterhaltsame Weise reihenweise alte Sagen nacherzählen. „Mythen und Sagen des Nordens“ sticht aus diesen jedoch durch einen Aspekt heraus: Ein hoher Stellenwert wird hier den Quellen und der Überlieferungsgeschichte eingeräumt, im Klartext also: Aus welchen Quellen speist sich die Sage? Wann ist der Stoff erstmals belegt? Und welche historischen Personen und Ereignisse standen dafür Pate? Ein ganz neuer Blick auf manche Überlieferung offenbart sich durch Analyse der Ursprünge, etwa wenn Motive deutlich auf Mythen der klassischen Antike zurückgehen oder sich deutlich historische und/oder propagandistische Grundlagen ausfindig machen lassen. Gerade die Pluralität der zugrundeliegenden Quellen wird sonst gerne ignoriert, hier aber differenziert kenntlich gemacht. So mag wohl jedem der Name Artus etwa sagen, doch wer ist sich der genauen Verwicklungen der zahlreichen Figuren dieses so umfangreichen Sagenzyklus bewusst, die in modernen Adaptionen (etwa Filmen) bestenfalls rudimentär wiedergegeben werden? Zudem bietet das Ende eines jeden Kapitels noch Empfehlungen in Sachen Literatur (neben allgemeinen Werken auch Editionen der Originaltexte) und anderen Medien für jeden, der sich näher damit auseinandersetzen will. Reich illustriert mit Bildern aus allen Zeiten (von Mittelalter bis Renaissance und moderner Film) ist das Buch außerdem. Einziger Kritikpunkt ist, dass sich oft Informationen wiederholen und etwa in den Kapiteln ebenso wie auf den weiterführenden Infoseiten zu finden sind.
Doch letztlich ist „Mythen und Sagen des Nordens“ ein nur allzu empfehlenswertes Buch. Es ist auf der einen Seite ein leicht verständlicher Überblick über bekannte und unbekannte Sagen, zugleich aber auch ein quellenkritisches Werk mit vielen Hintergrundinformationen.