Knochenlese

Kathy Reichs dürfte vielen ein Begriff sein – forensische Anthropologin und, Themen ihrer unschönen und doch faszinierenden Profession verarbeitend, Autorin zahlreicher Bestseller, die nicht zuletzt lose die erfolgreiche Krimiserie „Bones“ inspirierten.
„Knochenlese“ ist das fünfte Buch der Bestsellerreihe, wenngleich das erste, das ich las. In diesem nun ist die Protagonistin Tempe Brennan (die tatsächlich annähernd nichts mit der gleichnamigen Figur der Serie zu tun hat) in Guatemala unterwegs, um dort Opfer in Massengräbern des jüngsten Bürgerkriegs zu identifizieren. Da werden unerwartet Leichenreste in einem Faultank geborgen – und da Brennan zufälligerweise auch Autorin eines Artikels über den Zerfall von Leichen in Faultanks ist, zieht die örtliche Polizei sie gleich hinzu. Handelt es sich bei der Toten womöglich um die jüngst verschwundene Tochter eines Politikers? Zu allem Überfluss scheinen mächtige Stellen der Anthropologin Steine in den Weg zu legen. Was mag hinter dem Mord stecken, der alsbald nicht mehr alleine dasteht?
Wie zu erwarten, stellt der Roman maßgeblich Aspekte der Forensik in den Mittelpunkt, Untersuchungen an stark verwesten Leichen nämlich. Anhand gleich mehrerer Fälle wird dies relativ breit ausgewalzt, ganz nebenbei lernt man sogar noch etwas über Knochenanalysen. Detailliert und offenkundig fundiert, für manchen Leser vielleicht abstoßend, doch letztlich genau was man erwartet. Schade nur, dass das Buch abseits dieses morbide-faszinierenden Rückgrats wenig zu bieten hat. Über die ersten hundert Seiten scheinen die Ermittlungen als solche nicht wirklich ins Laufen zu kommen, auch danach glänzen sie nicht unbedingt durch raffinierte Charaktere oder allzu mitreißende Wendungen. Den Großteil des Buches geht es tatsächlich weniger um Suchen und Finden eines Mörders, als vielmehr nur um die Identifizierung besagten ersten Mordopfers, während im Hintergrund noch der Verdacht eines Serientäters im Raum steht. Zum Ende hin werden noch gewisse allzu weitgreifende Aspekte eingebracht, die nicht ganz zum vorherigen Beziehungsgeflecht passen, doch das ist in diesem Genre gerade noch akzeptabel. Dies alles würde im Grunde also einen soliden Krimi machen, dessen inhaltliche Stärken und dramaturgische Durchschnittlichkeit sich etwa die Waage halten. Was einen jedoch beim Lesen weit mehr zum Würgen bringt als die plastische Beschreibung von Leichenverfall in Faultanks, das sind die ständigen inneren Monologe der Protagonistin und Erzählerin. Wahrlich, die so qualifizierte Dr. Brennan stellt sich schon auf den ersten Seiten als emotionaler Jammerlappen heraus, die während ihrer Arbeit größtenteils damit beschäftigt ist, über das Ausmaß des Grauens schockiert zu sein und ihre eigene Betroffenheit zu kultivieren. Man sollte meinen, eine forensische Anthropologin, deren Beruf und Berufung es ist, verfaulte Leichen zu untersuchen, besäße zumindest eine gewisse Distanz, anstatt in solch übertriebenem Maße unter der Anteilnahme an ihren Befunden zu leiden. Zynisch gesprochen ließe sich behaupten, dass, wäre das Buch von einem Mann geschrieben worden, dieser sich in Anbetracht der völlig emotional-überzeichneten Charakterisierung seiner Protagonistin bald den Vorwurf eines sexistisch-antiquierten Frauenbildes anzuhören hätte, ohne dass ein solcher Vorwurf aus der Luft gegriffen wäre. Es dürfte indes zu bezweifeln sein, dass die Autorin auch in dieser Angelegenheit sich selbst in das Buch hineingeschrieben hat – angesichts ihrer realen Profession sehr unrealistisch, auch ihr solch überdramatisierte Gefühlsregungen zu unterstellen. Vielmehr wage ich darin eine literarische Masche zu vermuten, um wenig gekonnt Tiefgründigkeit und emotionale Identifikation zu inszenieren. Reichs Erfolg zeigt, dass diese Form von Faultank-Verwesungs-Seifenoper offenbar viele begeisterte Anhänger*innen findet – wer wollte nicht schon einmal den „Tatort“ mit den bewegendsten Folgen von „Sturm der Liebe“ kombiniert sehen? Ganz richtig: Ich.
Was also bleibt? Eine durchschnittliche Krimihandlung, zwar herausragend fundiert, was die forensischen Grundlagen angeht, doch passagenweise unerträglich, nicht durch traditionellen Ekel, sondern plump überzeichnete Emotionalisierung. Schade, dass fachliche nicht zwangsläufig auch literarische Kompetenz bedeutet. Für einen Buchliebhaber hart, dies auszusprechen, doch da schaue ich mir lieber die Serie an. Nicht obwohl, sondern gerade weil sie bis auf den bloßen Namen der Protagonistin nichts mit den Büchern zu tun hat.