Während sich im Deutschland des Mittelalters die Dichter vorwiegend für Ritter und Minne begeisterten, entstand im spärlich besiedelten Island eine ganze Literaturgattung, die bis heute nichts von ihrem Reiz verloren hat: Die Sagas. Anders als viele andere Texte dieser Zeit durchweg in (auch jetzt noch gut lesbarer) Prosa abgefasst, berichteten die meist anonymen Autoren von großen Kriegern, die in ferne Länder aufbrachen, um Ruhm und Reichtum zu erwerben, von Streitigkeiten zwischen Bauern, die in Rechtsprozessen und blutigen Fehden endeten, von historischen Ereignissen wie der Entdeckung Islands, Grönlands und Amerikas sowie der Christianisierung Islands, ja bisweilen gar von unverwundbaren Berserkern und Wiedergängern. Auszeichnen tun sich die Sagas vor allem durch ihre schnörkellose, pragmatische Sprache und ihre allzu historische (bzw. historisch wirkende) Verankerung im Leben von Menschen, die wirklich gelebt haben oder gelebt haben könnten. So zeigen die Sagas auch keinen durchkonzipierten Handlungsbogen, sondern berichten gnadenlos die familiäre Vorgeschichte sowie Nebenstränge der Ereignisse und machen nicht vor (aber auch nicht immer direkt nach) dem Tod des Helden Halt.
Zur Freude aller an historischer Literatur interessierten Leser brachte der Fischer-Verlag einen ganzen Korpus von Sagas (ob tatsächlich alle, ist mir nicht bekannt) in vier Bänden heraus (zuzüglich einem fünften mit Hintergrundinformationen). Der erste ist mit 912 Seiten und einem Preis von 32€ der dickste und kostspieligste – doch beides stellt sich beim Lesen als allzu berechtigt heraus. Enthalten sind neben mehreren kürzeren Erzählungen – etwa denen von Gunnlaug Schlangenzunge, Hühner-Thorir oder dem kriegerischen Björn aus dem Hítardal – auch die zwei wohl längsten und möglicherweise bekanntesten Sagas: Die „Saga von Egill Skallagrimsson“ beschreibt das für einen Sagahelden ungewöhnlich lange Leben des Kriegers und Sklalden Egill, der gleichsam durch seine Kampfeskraft und seinen ambivalenten Charakter hervorsticht. Die längste Saga überhaupt indes ist „Brennu-Njálls Saga“. In ihr geht es vor allem um die Fehde zwischen zwei Höfen, der nacheinander zahlreiche Männer zum Opfer fallen – obwohl der weise alte Mann Njall in diesem „Gerichtsthriller des Mittelalters“ stets um juristischen Ausgleich bemüht ist. Mit unter anderem diesen beiden Meisterwerken der Weltliteratur versammelt der erste Band einen gewaltigen und mehr als repräsentativen Korpus der alten Isländersagas. Zu den bloßen Texten kommen noch in großem Maße Anmerkungen etwa zu bestimmten Begriffen und jeweils eine knappe Einführung vor jeder Saga, wodurch sich der Kontext besser erschließt. Fachspezifisches Vorwissen ist zum Verständnis nicht vonnöten – mitbringen muss der Leser nur das nötige Interesse. Anstrengend und unübersichtlich sind natürlich immer die den Sagas so eigenen langen Genealogien, doch ansonsten lesen diese sich erstaunlich flüssig. Kaum eine andere vorneuzeitliche Literaturtradition, mag man fast meinen, ermöglicht – abseits aller heroischen und mythischen Stoffe – einen so lebendigen Einblick in die Lebenswirklichkeit eines vergangenen Volkes wie die Sagas, die ein relativ realistisches Zeugnis der damaligen Kultur und Literatur von höchsten Niveau in einem sind. Dafür ist dieser erste Band mehr als ein gelungener Einstieg.