Endlich ist der neue Harry-Potter-Band veröffentlicht, auf den so viele gewartet haben. Doch „Harry Potter und das verwunschene Kind“ spaltet die Gemüter – zurecht.
Der weltbekannte Held, inzwischen 37, arbeitet mittlerweile in der magischen Strafverfolgung des Zaubereiministeriums, seine Freundin Hermine ist Zaubereiministerin. Nur macht sein Sohn Albus Probleme: Nicht genug damit, dass er sich bei der Einschulung in Hogwarts mit Draco Malfoys Sohn Scorpius anfreundet, zu allem Überfluss teilt der Sprechende Hut ihn dem Hause Slytherin zu und er wird zum Außenseiter. Harry dringt längst nicht mehr zu seinem Sohn durch, welcher sich durch das große Erbe belastet fühlt. Um seinem Ego genüge zu tun, beschießt Albus, mit seinem Freund Scorpius eine Heldentat zu vollbringen: Einen der letzten Zeitumkehrer zu entwenden und damit in die Vergangenheit zu reisen, um den unnötigen Tod des Cedric Diggory (im 4. Band) zu verhindern. Überdies machen Gerüchte die Runde, dass es dem Dunklen Lord Voldemort vor seinem Tod gelungen ist, ein Kind zu zeugen, das womöglich sein Erbe antreten wird…
Zunächst muss auf jeden Fall folgendes klargestellt werden (manche Amazon-Rezensionen zeigen, dass es noch nicht jeder verstanden hat): Es handelt sich beim „achten Harry Potter“ NICHT UM EINEN ROMAN, sondern um das Skript zu einem Bühnenstück, d.h. ein Drama. Man hätte meinen können, diese Textgattung sei ausgestorben, doch Frau Rowling und ihre Mitautoren beweisen uns, dass dies (leider?) nicht der Fall ist. Die Form des Dramas bringt unweigerlich gewisse Eigenheiten mit sich: So liegt der Fokus selbstverständlich auf den Figuren, besteht der Text doch fast ausschließlich aus Dialogen. Sämtliche Beschreibungen werden trocken und vor allem extrem verkürzt abgehandelt, was der Handlung Geschwindigkeit verleiht. Das heißt jedoch auch, dass die (Fantasy-)Atmosphäre auf der Strecke bleibt. Die vorkommenden Schauplätze sind entweder ziemlich beliebig (z.B. Harrys Haus) oder lassen sich nur durch Erinnerungen an die vorangegangenen Bücher bzw. Filme veranschaulichen. Auch für wirklich neue Handlungselemente bleibt kein Platz. Zwar gibt es neue und zugegebenermaßen interessante Charaktere, eine Erweiterung der magischen Welt sucht man jedoch vergebens. Selbiges gilt für „innere Handlung“, da die Figuren überwiegend über ihre Dialoge charakterisiert werden.
Doch trotz der Textgattung Drama liest sich das Buch recht flüssig und spannend, wenn man sich erst an den Stil gewöhnt hat. Letztlich eine sehr unterhaltsame Lektüre, die sich ohne weiteres in einem Stück wegliest. Dies sei vor allem anderen hervorgehoben, ist der Unterhaltungswert doch das Kernstück eines jeden Werkes der Populärkultur. Andererseits kann man auf jeden Fall sagen, dass das Werk einen besseren Roman abgegeben hätte. Nicht nur, dass die zahlreiche übernatürlichen Elemente nur mit großem Aufwand auf der Bühne darzustellen sein dürften. Letztlich bleibt das Skript eben doch ein zweitklassiges, unvollkommenes Werk, das man auch in einer literarisch höheren Form hätte verwirklichen können.
Wie steht es um die Story selbst? Meine Meinung dazu ist ambivalent. Einerseits, wie gesagt, funktioniert das Buch als Unterhaltungslektüre hervorragend (vorausgesetzt, man erwartet keinen Roman, das dürfte enttäuschen). Die neuen Charaktere – allen voran Albus, Scorpius und Delphi – sind recht gut konzipiert, die bekannten – Harry, Ron, Hermine, Ginny, Draco – interessant weiterentwickelt. Natürlich gibt es auch hin und wieder übertriebenen Pathos in Moralapostel-Manier, wie man es schon gewohnt ist.
Auf der anderen Seite ist „Harry Potter und das verwunschene Kind“ nur eine weitere konventionelle Zeitreisegeschichte mit einem bereits unzählige Male durchgekauten Handlungsmuster. Mit Zauberern und den Charakteren aus Harry Potter, okay, aber doch nur eine klassische Zeitreisegeschichte, die dem HP-Universum bis auf ein paar Charaktere nichts Neues hinzufügt. Oder anders gesagt: bessere Fanfiction, aber immerhin von J.K. Rowling abgesegnet (wobei man kaum weiß, wie viel sie wirklich dazu beigetragen hat).
Ganz abgesehen von all den logischen Problemen, die Zeitreisen immer mit sich bringen und die in dem Genre für gewöhnlich stillschweigend toleriert werden, ist das Konzept im Harry-Potter-Universum absolut widersprüchlich. Bereits in „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ (3. Teil) kam der in diesem Teil so wichtige Zeitumkehrer vor. Aber: Dort wurde noch von einer selbstkonsistenten Realität ausgegangen, d.h. alle durch Zeitreisen aus der Zukunft verursachten Veränderungen sind bereits Teil der jeweiligen Vergangenheit/Gegenwart, d.h. die Gegenwart (aus Sicht des Zeitreisenden) kann dadurch nicht verändert werden. (Gut zu sehen etwa bei der Szene, in der Harry von einem unbekannten Patronus gerettet wird, den er später bei seiner Zeitreise aus der Zukunft selbst beschwören wird.) In „Harry Potter und das verwunschene Kind“ wird indes von einem gänzlich anderen Zeitreisekonzept ausgegangen, bei dem sich die Zukunft/Gegenwart tatsächlich grundlegend verändern lässt. Dies ist somit kein kleiner Logikfehler, wie man es zum Beispiel aus den X-Men-Filmen gewöhnt ist, sondern ein massiver Widerspruch, der die gesamte Handlung ad absurdum führt. Zu guter Letzt sei noch bemerkt, dass ich persönlich bei nicht komplett darauf basierenden Universen kein Freund solcher Zeitreisen bin, da sie eine massive Relativierung der gesamten bisherigen Ereignisse bedeuten.
Im Fazit also:
- sehr unterhaltsam, ABER:
- einfallslose Story
- nichts wirklich Neues
- zentraler Logikfehler
- durch die Textform viel Potenzial verschenkt
Wirklich schade, dass man auf eine eigentlich großartige Reihe noch solch eine mangelhafte Pseudo-Fortsetzung draufsetzen muss. Hat man eine erfolgreiche Romanreihe geschrieben, dann bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder man schreibt eine richtige Fortsetzung (oder Prequel/Spinoff) und hält das Niveau. Oder man lässt es bleiben. „Harry Potter und das verwunschene Kind“ aber ist ein Drama, in zweierlei Hinsicht.