Richard Dawkins ist zweifellos einer der führenden Evolutionsbiologen (und Intellektuellen überhaupt) unserer Zeit: In Werken wie „Das egoistische Gen“ und „Der erweiterte Phänotyp“ prägte er neue Sichtweisen auf die Evolution, in seinem Klassiker „Der Gotteswahn“ führte er einen Rundumschlag gegen die Religion und ihre unwissenschaftlichen Behauptungen. Das über 900 Seiten starke Monumentalwerk „Geschichten vom Ursprung des Lebens“ (engl. „The Ancestor’s Tale“) ist literarisch vielleicht sein faszinierendstes Werk. Es erzählt die Geschichte der Evolution – rückwärts. Und das hat seinen Sinn.
Seit der Zeit Darwins war die Evolutionstheorie immer Gift für alle Weltbilder, die den Menschen ins Zentrum der Welt stellten – was freilich viele Angehörige dieser Art nicht davon abhielt, sie trotzdem dahingehend fehlzuinterpretieren. Zu oft wird die Evolution dargestellt als ein vorherbestimmter Plan, als Prozess der ständigen Höherentwicklung mit konkretem Ziel, das zufällig nichts anderes ist als die Spezies der Individuen, die sich genau das ausdenken. Und überhaupt – sind nicht die Wirbeltiere überrepräsentiert in all jenen Darstellungen der Evolution, die die Naturgeschichte inszenieren als sukzessive Abfolge von Fischen, Amphibien, Reptilien, Säugetieren?
Dawkins geht hier einen anderen Weg. Das Buch ist – zumindest metaphorisch – angelehnt an die berühmte englische Geschichtensammlung der Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer. So wie dort eine Pilgerfahrt nach Canterbury beschrieben wird, der sich immer mehr Pilger anschließen, die allesamt ihre Geschichten erzählen, so nimmt Dawkins den Leser mit auf eine Pilgerfahrt der Lebewesen – aller Lebewesen – hin zum Anfang des Lebens. Trotz des innovativen Szenarios bleibt es natürlich ein Sachbuch – zwar bis zum Rand voll mit Informationen, doch meistens durchaus flüssig zu lesen in seinen kurzen Abschnitten mit stets anschaulichen Aufhängern. Wir beginnen bei unserem eigenen Startpunkt, dem Menschen, wobei sich dann Stück für Stück an den Wegkreuzungen des Stammbaumes all die anderen Wesen dem Zug anschließen: Erst die Schimpansen und anderen Menschenaffen, gefolgt von den Gibbons, den restlichen Primaten und dann Lemuren, den Nagetieren und den übrigen Säugetieren, dann nach den sehr früh abgespaltenen Gruppen der Beutel- und Kloakentiere die Reptilien (die Vögel im Schlepptau), die Amphibien, Quastenflosser, Lungenfische und dann die übrigen Fische, mit dem kleinen Lanzettfischchen die Wirbeltiere schließlich alle hinter sich wissend, dann die Seescheiden und nach und nach die Tierstämme der Wirbellosen – darunter der gigantische der Gliederfüßer mit ihren unzähligen Insekten – hin zu den Schwämmen, gefolgt von den Pilzen, Pflanzen, den verschiedenen Gruppen der sogenannten Protozoen bis schließlich zu den längst nicht mehr vielzelligen, nun auch nicht länger eukaryontischen Archaeen und Bakterien. Im Zuge der Begegnungen – wenn also ein ganzer Ast des Stammbaumes sich dem Pilgerzug anschließt – tauchen einzelne Arten auf, die ihre „Geschichten erzählen“, anhand derer nämlich verschiedene Aspekte der Evolution und sonstigen Biologie verdeutlicht werden. So erzählt der Salamander etwas über die gerne einmal problematische Unterscheidung von Arten, der Axolotl über die Metamorphose, der Strauß als Repräsentant der Laufvögel über die geographischen Dimensionen der Evolution und ausgerechnet die Heuschrecke über die kontroverse Frage der Rassen und was diese eigentlich bedeuten.
So glückt ausnahmsweise das schwierige Unterfangen, Evolutionsgeschichte nicht als Fossiliengeschichte zu schreiben: Natürlich bleiben auch die prähistorischen Vertreter der Tierwelt von großer Bedeutung für die Rekonstruktion des Stammbaumes – hier aber sind es die Lebenden, die die Geschichten erzählen und endgültig den Irrglauben ausräumen, Evolutionsforschung sei nur ein Ordnen prähistorischer Fossilien. Zu den wichtigsten Erkenntnissen der letzten Zeit zählen etwa die Ergebnisse molekulargenetischer Untersuchungen, die nach der Frequenz von Mutationen im Genom, dem „genetischen Totenbuch“ bei Dawkins, beeindruckend präzise den Verwandtschaftsgrad zweier lebender Spezies bestimmen können und damit schon manch sicher geglaubte Verwandtschaft revidiert haben. Natürlich spiegelt das Buch damit auch nur den wissenschaftlichen Stand der Zeit (d.h. 2004) wieder, von dem manche Details seitdem revidiert wurden – so etwa die Evolution der Laufvögel, die sich dank ebenjenen molekulargenetischen Untersuchungen heute etwas anders darstellt als von Dawkins geschrieben. Das ist die Natur der Wissenschaft, was in dem Buch mehr als nur einmal betont wird – zehn Jahre später geschrieben, hätten die Laufvögel eine andere, nicht minder interessante Geschichte erzählt.
Die „Geschichten vom Ursprung des Lebens“ schaffen, was ein systematisches Lehrbuch nicht könnte – die Verdeutlichung nicht nur des großen Ganzen, also der Grundregeln der Natürlichen Selektion etc., sondern gerade eben der vielen Feinheiten der Evolutionsbiologie: Einerseits die verschiedenen Mechanismen und wie sie sich im Speziellen auswirken können, so etwa die sexuelle Selektion und ihre wohl deutlich höher als gedacht zu bewertende Rolle, die manchmal gar kuriosen daraus resultierenden (vorläufigen) Ergebnisse, wenn etwa die Evolution Haken schlägt und auf den ersten Blick unerwartete Wege nimmt (z.B. die asexuellen Rädertierchen), die vielfältigen Beweise für die Evolution gerade auch in Gegenüberstellung zu den meist wenig durchdachten Behauptungen der Kreationisten – schließlich ganz maßgeblich die wissenschaftliche Arbeit selbst, ihr Prinzip der Hypothesen und Überprüfungen, Spekulationen weshalb und weshalb nicht, die Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher Theorien im Laufe der Zeiten oder auch zeitgleich angesichts noch immer kontroverser Fragestellungen (z.B. der genaue Grund für den aufrechten Gang des Menschen). Dazu gehört auch Auseinandersetzung mit der Geistesgeschichte unserer Kultur – so etwa des spätestens seit Platon so fatal beherrschenden Essentialismus im Denken so vieler Menschen, der bis heute das Verständnis evolutionärer Zusammenhänge zugunsten von Missverständnissen und Aberglauben erschwert. Man kommt auch in Berührung mit den von Dawkins selbst begründeten Konzepten des „egoistischen Gens“ und des „erweiterten Phänotyps“, beide schon zuvor in ganzen Büchern dargelegt, die bei näherer Betrachtung einerseits plausibel, schier selbstverständlich scheinen und doch unser populäres Verständnis der Biologie umkrempeln.
Bei jedem Kapitel erneut kehrt Dawkins natürlich zur Frage nach den genauen verwandtschaftlichen Beziehungen zurück, schon dort vor den einzelnen „Geschichten“ lehrhaftes Zeugnis biologischer Theorien und Beweisführungen. Den größten Umfang – einerseits wegen der faktisch größeren Zahl von Abzweigungen im Stammbaum (und somit „Begegnungen“), andererseits wohl nicht zuletzt aus subjektivem Interesse – nehmen natürlich die Tiere ein, während Pilze, Pflanzen und Bakterien eher kurz behandelt werden, was aber wahrscheinlich den meisten Lesern in ihrem Geschmack entgegenkommen dürfte. Das vorletzte Kapitel setzt sich schließlich mit der Entstehung des ersten Lebens selbst auseinander und erklärt anschaulich die dazu bestehenden Theorien und Erkenntnisse. Den Abschluss bildet schließlich die Fragestellung, ob die Evolution auch anders hätte verlaufen können. Was jedoch unerwartet völlig fehlt, sind die Viren (bei denen ja ohnehin diskutiert wird, inwieweit es sich überhaupt um Lebewesen handelt) – hier hätte man sich schon eine solche evolutionäre Einordnung gewünscht, wie es doch sonst so vielfach brillant geschehen ist.
Letztendlich ist das Buch wohl auch deshalb so angenehm zu lesen, weil es eben kein einfaches theoretisches Übersichtswerk ist, sondern eine (durch den Rahmen immer noch stringente) Aneinanderreihung einzelner Abschnitte mit ihren ganz eigenen Fragen und Lehren. Zwar kein Buch, das man schnell in wenigen Tagen durchlesen könnte, doch auf jeden Fall ein Meisterwerk des populärwissenschaftlichen Sachbuchs. „Geschichten vom Ursprung des Lebens“ ist nicht nur ein Einstiegswerk zum Verständnis der Evolution, sondern eine Bereicherung auch für Fortgeschrittene – durch zahlreiche Einzelgeschichten vermittelt es allgemeines Wissen, eigentlich (sollte man meinen): Allgemeinwissen, und lädt ein zum ehrfürchtigen Staunen über die Vielfalt der Natur.