Schon der Name „Ein neuer Kampf um Troia: Archäologie in der Krise“ deutet an, dass der Autor Eberhard Zangger darin revolutionäre Thesen aufstellt. Doch ob Pseudowissenschaft oder wissenschaftlicher Quantensprung, das ist hier dir Frage. Sehen wir uns zunächst Ausgangslage und vorgelegte Theorie an:
Am Ende der Bronzezeit, gegen 1200 v. Chr., kam es im gesamten östlichen Mittelmeerraum zu massiven Zerstörungen. Das Reich der Hethiter ging unter, ebenso die Hafenstadt Ugarit, Ägypten wurde schwer angeschlagen. Wenig später kollabierten auch die mykenischen Stadtstaaten in Griechenland. Und, in der klassischen Darstellung weniger bekannt, auch Troia (bzw. die gemeinhin und recht gut fundiert als Troia identifizierte Siedlung) erlebte eine massive Zerstörung. Soweit die Fakten. Die klassische Wissenschaft macht für alles oder zumindest vieles davon die mysteriösen „Seevölker“ verantwortlich, die in ägyptischen Berichten auftauchen. Andere Theorien stellen etwa Erdbeben und/oder Dürre in den Mittelpunkt, wobei diese niemals allein ausreichen dürften.
Eberhard Zangger versucht nun, all diese Ereignisse in einer umfassenden Rekonstruktion zu vereinen. Im Zentrum seiner These: Das jedem bekannte und doch von der Wissenschaft oft vernachlässigte Troia. Dieses sei nicht nur größer gewesen als bisher behauptet (mittlerweile durch Ausgrabungen nachgewiesen), sondern auch die führende Kraft eines Reiches oder Bündnisses in Nordwestkleinasien, das in hethitischen Quellen unter dem Namen Ahhijawa bekannt ist. Dieses Reich sei, zusammen mit Kaskäern und Libyern, verantwortlich für die Angriffe auf das Hethiterreich, Ägypten und die Levante gewesen. Anschließend habe wiederum ein Bündnis mykenischer Städte Ahhijawa zerschlagen und Troia zerstört – der historische Hintergrund für den weltweit bekannten Stoff der homerischen Epen, den Trojanischen Krieg. Im Anschluss sei auch die mykenische Kultur durch innere Konflikte und den Wegfall der früheren Handelspartner zugrunde gegangen.
Das alles ist eine Theorie, das macht der Autor mehrfach deutlich. Nicht letztgültig bewiesen, aber besser belegt und auf weniger Prämissen angewiesen als alle alternativen Modelle (wenn sich jene tatsächlich auf die von Zangger aufgezählten beschränken, dann hat er damit sogar Recht). Auch ist positiv anzumerken, dass die Argumentation sehr übersichtlich und systematisch dargestellt ist, einschließlich praktischer Zusammenfassungen und Gegenüberstellungen der Fakten und Thesen. Ausführlich schildert Zangger auch die politische Situation und den Ablauf der letzten Jahrhunderte, einschließlich der allgemein akzeptierten Fakten. Und die Theorie selbst?
Ist in Anbetracht der Tatsache, dass man bei der Quellenlage schwerlich überhaupt etwas beweisen kann, recht gut. Erstmalig sind die Seevölker keine numinose Geisterarmee mehr, die aus dem Nichts auftaucht, zerstört und wieder verschwindet. Stattdessen wird nachvollziehbar der Zusammenhang zwischen ägyptischen und hethitischen Quellen, archäologischen Erkenntnissen und den Berichten der späteren Griechen dargelegt. Zangger geht dabei sehr quellenkritisch vor und betrachtet insbesondere die homerischen und nichthomerischen (mehr historisch gestalteten) Troiaerzählungen differenziert und mit ausdrücklicher Betonung, man solle sich nur auf jene Aspekte verlassen, die auch in unabhängigen Quellen ihre Entsprechung finden. Es fasziniert auch insbesondere die kritische Betrachtung der ägyptischen Schlachtberichte, deren Glaubwürdigkeit ebenso angezweifelt werden sollte. Letztlich wirkt jedenfalls alles fundiert und ohne zu große Mutmaßungen – eine neue Theorie, nicht schlechter als viele andere in der Altertumswissenschaft.
Einleitung und Nachwort kritisieren schließlich noch, ohne dabei allzu verschwörungstheoretisch zu wirken, einige Charakteristiken des Wissenschaftsbetriebs in den Disziplinen der antiken Geschichte, etwa die zu große Spezialisierung, die Abneigung gegen große Veränderungen und den Mangel an Zielsetzungen in der Forschung – dies muss man nicht alles unterschreiben (zumal Wertungen prinzipiell unempirisch sind), doch auf jeden Fall ist dieser Teil hochinteressant und regt zum Nachdenken an.
In einem früheren Buch vertrat Zangger auch die These, das von Platon beschriebene Atlantis sei mit Troia gleichzusetzen, was im Nachwort des vorliegenden Buches kurz angeschnitten wird – dies indes kann ich mangels Lektüre des entsprechenden Werkes nicht bewerten. „Ein neuer Kampf um Troia“ jedenfalls ist keine Pseudowissenschaft, wie es sie leider auch in beträchtlicher Zahl in diesem Bereich gibt, sondern nur die vernünftige Argumentation für eine zugegebenermaßen kontroverse These. Es vergegenwärtigt zum einen den Forschungsstand in diesem Bereich und stellt zugleich eine Theorie auf, die sich zu diskutieren lohnt und glaubwürdig wirkt. Damit könnte er auch falsch liegen – doch das ist Wissenschaft.