Stephen Jay Gould (1941-2002) war einer der wohl bekanntesten Paläontologen und Evolutionsbiologen der jüngeren Vergangenheit, nicht zuletzt maßgeblicher Begründer der evolutionären Theorie des Punktualismus. Über Jahre hinweg verfasste er zahlreiche Essays – einen im Monat – zu verschiedensten Themen, fachlich fundiert und gleichsam populärwissenschaftlich verständlich. Mehrere Sammlungen dieser Essays erschienen auch hierzulande, wobei das Buch mit dem kuriosen Titel „Ein Dinosaurier im Heuhaufen – Streifzüge durch die Naturgeschichte“ eine davon ist.
Was einem entgegentritt, schlägt man den 480 Seiten zählenden Wälzer auf, stellt sich als alles andere denn dröge fachwissenschaftliche Studien heraus – vielmehr ist es Gould gelungen, eine ganze Reihe hochinteressanter Themen zu finden, auf die wahrscheinlich kaum ein anderer Autor kommen würde. Der Dinosaurier steht hierbei nur pars pro toto im Titel – liegt doch der Schwerpunkt keinesfalls nur auf den populären Urzeitechsen, sondern spannt sich über allerlei Phänomene der Natur-, vor allem aber auch Wissenschaftsgeschichte. Wieso wurden in Fachpublikationen des 19. Jahrhunderts Schneckenhäuser stets spiegelverkehrt dargestellt? Was hatte man sich damals unter von Frauen verfassten Büchern zur Naturkunde vorzustellen? Was hat es mit dem neuen Ordnungskonzept der Exponate im New Yorker Naturkundemuseum auf sich? Und wie bewertet ein echter Paläontologe eigentlich den Film „Jurassic Park“? Oft sind es gerade die kleinen, auf den ersten Blick wenig spektakulären Funde und Phänomene, die Gould zum Thema seiner Aufsätze macht, im Zweifel lieber prähistorische Meeresschnecken als Tyrannosaurier. All solche Themen werden als Aufhänger für teils noch weitreichendere Exkurse genutzt, etwa die Fundgeschichte der Walvorfahren als Musterbeispiel für die Bestätigung evolutionärer Theorien. Interessanter als die nichtmenschlichen Geschöpfe selbst sind dabei allzu oft die Gedanken zur menschlichen Rezeption der Naturgeschichte, damals wie heute. Seien es vergessen geglaubte Gestalten der Anfangsjahre der Wissenschaft, seien es Exempla wissenschaftlicher Methodik oder (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung) hochaktuelle Forschungen wie die Theorie vom Aussterben der Saurier durch einen Meteoriteneinschlag. Gerade diese Kombination der bloßen Fakten mit jenen Aspekten der Wissenschaft als solcher um sie herum – der Forschungsgeschichte, der Forschungspraxis – ist es, die die Texte unter populärwissenschaftlichen Darstellungen so einzigartig und faszinierend macht. Obwohl ein Sachbuch und in so viele einzelne Teile gegliedert, liest sich das Werk erfrischend flüssig dahin, einem Roman an Fesselungsvermögen ebenbürtig.
Goulds Theorie dea Punktualismus mag inzwischen durch neuere Erkenntnisse relativiert sein, wissenschaftlich unhaltbar sind weiterhin seine liberalen Ansichten zur Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion – doch weder das eine noch das andere schmälert das Werk an sich, das (wie vermutlich noch einige andere) die mehr als berechtigte Popularität des Autors beweist. Mit seinen pointierten und interessanten Essays hat Gould tatsächlich ein Lebenswerk hinterlassen, das vielen Wissenschaftlern zum Vorbild gereichen sollte, die perfekte Symbiose von Wissenschaft und Literatur, besonders denkwürdig durch die so innovativ-eigentümlichen Themen, derer er sich dabei annimmt. Ein großartiges Buch – und sicher nicht das letzte des Autors, das den Weg in mein Regal findet.
Was genau es nun aber mit dem Saurier und dem Heuhaufen auf sich hat, soll an dieser Stelle einmal nicht gespoilert werden. Nur dass es eine Metapher ist, sei bereits angedeutet – Gras gab es im fernen Mesozoikum schließlich noch nicht.