Blutige Serienmörder, geheimnisvolle Adelige, übernatürliche Ungeheuer – Mike Vogler vereinigt in seinem Sachbuch Düstere Legenden: Buch des Grauens einige der faszinierendsten historischen und mythischen Begebenheiten Europas. Vorliegen hat man hier weder eine Sammlung von Horrorgeschichten noch ein Werk der Grenzwissenschaften, sondern eine seriöse Studie über die mal wahren, mal legendären, mal zweifelhaften Sachverhalte.
Viele der angesprochenen Begebenheiten stammen aus Sachsen, der Heimat des Autors, und sind mehr regionaler Art, also in anderen Gebieten ziemlich unbekannt – genannt seien etwa eine „Matzel“ genannte Art von Schutzgeistern, mehrere angeblich von der Pest entvölkerte Dörfer und regionale Varianten weit verbreiteter Motive. Gleichsam werden jedoch einige der herausragendsten Gräuel und interessantesten Begebenheiten der europäischen Geschichte und Folklore erörtert, darunter
- Gilles de Rais, französischer Adeliger und Serienmörder, der mindestens 126 Jungen und einige Mädchen auf grausamste Weise ermordete
- Die Bestie von Gevaudan, welcher von 1764-1767 rund hundert Menschen zum Opfer fielen
- Der schottische Kannibalenclan der Beans, mit ziemlicher Sicherheit jedoch eine Legende (und Vorbild für moderne Backwood-Horrorfilme wie etwa The Hills Have Eyes und Wrong Turn)
- Nicolae Ceausescu, kommunistischer Diktator in Rumänien und nach Aussagen mancher ein Vampir – wohinter sich jedoch nur ein weltliches, wenn auch kaum weniger schreckliches Gräuel versteckt
- der Serienmörder Fritz Haarmann, „Werwolf von Hannover“
- Grigori Rasputin, russischer Wanderprediger und angeblicher Wunderheiler
- Die ungarische Gräfin Elisabeth Bathory, welche angeblich Mädchen ermordete und in deren Blut badete
- Der Mehrfachmord von Hinterkaifeck, Vorbild für den schrecklichen Roman Tannöd
- Der mythologische Archetyp des „Wilden Jägers“ und dessen Verbindung zum legendären Dietrich von Bern
Jedes einzelne Kapitel ist vollgepackt mit (mutmaßlich) gut recherchierten Informationen zu den jeweils behandelten Themen, sodass man sich stets ein recht breites Hintergrundwissen aneignet, wenn man denn alles behält. So steht hier auch nicht die sensationsheischende Herausstellung möglichst schrecklicher Bluttaten im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Erörterung der jeweiligen Ursachen und der Glaubwürdigkeit der weit verbreiteten Legenden. Im Falle von Gilles de Rais und Fritz Haarmann etwa untersucht der Autor die multiplen Gründe für die schrecklichen Taten. Indes räumt Vogler stets mit Legenden und Falschdarstellungen auf, was manch lang geglaubte Gewissheit über den Haufen wirft: So sind die schrecklichen Blutorgien der Elisabeth Bathory ziemlich sicher ein Mythos, die der (wenn auch zweifellos rigiden und mithin sadistischen) Gräfin von ihren Feinden angedichtet wurden, denn es existieren weder glaubwürdige Beweise noch direkte Zeugenaussagen darüber. Auch bei Rasputin handelt es sich vermutlich um eine missverstandene Persönlichkeit – weder lassen sich ihm politische Ziele unterstellen, noch gingen seine angeblichen Zauberkräfte über außergewöhnliche Suggestion hinaus. Der Lügenbaron von Münchhausen indes – tatsächlich eine historische Figur – setzte nur eine Handvoll der vielen Geschichten über ihn selbst in die Welt und war bezüglich der übrigen zeitlebens nicht sehr angetan. Hinter dem Kapitel „Die Vampirprinzessin von Krumau“ verbirgt sich nicht nur eine regionale, leicht zu widerlegende Legende, sondern eine Zusammenfassung der gesamten Vampirthematik des frühen achtzehnten Jahrhunderts. Interessant ist auch die Untersuchung der bekannten Legende vom Rattenfänger von Hameln, welche sich vermutlich auf historische Begebenheiten zurückführen lässt. In all diesen Fällen stellt Vogler nicht nur den Sachverhalt selbst, sondern auch zahlreiche etablierte Theorien dazu ausführlich dar und erörtert letztere sachlich. Viele solche Theorien werden dabei anhand von Fakten mühelos widerlegt, etwa die von der Ermordung des bayerischen Königs Ludwig II. (was ziemlich sicher auch kein Selbstmord war) oder der Identifizierung der Bestie von Gevaudan als Tüpfelhyäne oder gar prähistorisches Hyaenodon. Zu loben ist hierbei, dass auch übernatürliche Erklärungen nicht kategorisch ausgeschlossen, sondern empirisch widerlegt werden. Zwar kommt die Argumentation so fast jedes Mal zu einem konkreten Ergebnis, sie lässt sich aber zweifellos als differenziert betrachten, wo doch stets genug andere Stimmen gehört und erörtert werden. Manche These mag man mehr oder minder berechtigt in Zweifel ziehen – mangels Fachkenntnis maße ich mir kein Urteil an – doch auch dann wäre der Überblick über Fakten, Hintergründe und Theorien für sich schon großartig.
Letztlich hält man mit Düstere Legenden ein hochinteressantes Werk in Händen, das einen über einige der bedeutendsten und ein paar unbedeutende geschichtliche Ereignisse aufklärt. Zwar ist kein Artikel so detailliert, dass er ein eigenständiges Fachbuch zum Thema ersetzen würde, doch sicherlich informationsreicher als entsprechende Wikipedia-Artikel. Die Zusammenstellung gleich mehrerer solcher Geschichten mit ungewöhnlich großem inhaltlichen Tiefgang ist zu bewundern – ein Segen für die Allgemeinbildung, daher ausdrückliche Leseempfehlung.