Seit langem schon faszinieren uns die Wikinger: Ihre Raubzüge durch das ganze mittelalterliche Europa, ihre Religion um Odin & Co., ihre fast sprichwörtliche Ess- und Trinkkultur – und nicht zuletzt die Tatsache, dass sie fast fünfhundert Jahre vor Kolumbus Amerika betraten. All das findet seinen Widerhall in Josef Nyárys monumentalen Historienroman „Die Vinland Saga“ (der fehlende Bindestrich fällt auf dem Cover natürlich nicht auf). Schon der Titel deutet an, dass die Fahrten nach „Vinland“, also Amerika, unter Leif Eriksson und anderen eine zentrale Rolle spielen. Tatsächlich aber ist dies nur ein Aspekt.
Nach dem Lesen der ersten Seiten war der Respekt vor dem Rest des über-siebenhundert-Seiten-Wälzers erst einmal groß – zumal das Buch im Stil ganz bewusst angelehnt ist an die alten, vor allem aus Island stammenden Sagas, welche uns so lebendig Einblick in das damalige Leben geben. Die Sprache mit ihren bewusst archaischen Formulierungen wirkt zunächst schwergängig, zumal in der auktorialen Perspektive geschrieben, doch diese Zähigkeit verfliegt bald, sodass die letzten 700 Seiten flüssig und spannend zu lesen sind.
Anstatt wie die meisten modernen Romane nur einen zentralen Konflikt zu behandeln, folgt das Buch den miteinander verwobenen Schicksalen einer ganzen Reihe von Menschen, von denen ein Großteil historisch durch die alten Sagas belegt ist. Am ehesten wahrer Protagonist ist (der fiktive) Aris, der andere Wikinger auf Raubzüge, zur Besiedlung Grönlands und schließlich auch zu den Fahrten nach Vinland begleitet, freilich die ganze Zeit mit seinen eigenen Baustellen in Sachen Liebe (zu einer verschleppten Nonne) und Beziehungen (etwa zu dem blutrünstigen Berserker Thorhall, der ihm ans Leder will). Zugleich begleitet man die ganze Familie Eriks des Roten (Vater des Vinland-Entdeckers Leif) und Bjarne Herjulfssohns (der das fremde Land tatsächlich schon vorher erspähte). Mehr noch als eine Geschichte der Vinlandfahrten ist „Die Vinland Saga“ eine über die Besiedlung Grönlands und das Leben der Menschen dort. So ist auch ein sich durch das ganze Buch ziehendes Motiv die dramatische Geschichte der Christianisierung der nordischen Länder mit all ihren Verwürfnissen und Bluttaten.
Freilich kommen auch Action und Spannung nicht zu kurz – oft genug muss der eine oder andere Charakter um sein Leben fürchten (oder verliert es). Eine Handvoll phantastischer Elemente (etwa Berserker und Wiedergänger) wird dezent und passend eingesetzt, ohne dass die historische, weitgehend realistische Atmosphäre verlorengeht. Das Charaktergeflecht hat schier Game-of-Thrones-mäßige Dimensionen (im positiven Sinne), bleibt aber doch ausreichend übersichtlich. Gerade diese Vielzahl von Akteuren und Beziehungen, wovon so manches wirklich historisch ist, macht den Reiz des Werkes aus. So sind zumindest einige Charaktere durchaus komplex; viele machen eine beachtliche Entwicklung durch – zumal der Roman einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten beschreibt, wo hervorragend Konflikte über lange Zeit auf- und ausgebaut werden können. Trotz der Vielzahl der „Nebenkriegsschauplätze“ kommt es nie wirklich zu Verzögerungen oder einer Abkehr von dem, was gerade interessiert. Durch unzählige Anspielungen, etwa auf nordische oder christliche Mythen, historische Ereignisse etc. ist die Geschichte denkbar gut in der damaligen Welt verwurzelt, dass man (auch dies positiv gemeint) kaum zwischen Fakt und Fiktion unterscheiden kann. Negativ angemerkt werden können einzig und allein eine Handvoll Tippfehler zumindest in der mir eigenen Ausgabe (Bastei-Lübbe, 1994).
Ein beachtliches Historienepos ist mit „Die Vinland Saga“ gelungen: Gleichzeitig uneingeschränkt unterhaltsam und, inhaltlich wie stilistisch, so nah an den historischen Vorbildern, wie man es nur wünschen kann, dabei eine breit gespannte Handlung mit einer Vielzahl lebendig eingebundener Charaktere und dramatisch-realistischen Konflikten. Es wird nicht das letzte Buch gewesen sein, das ich von dem Autor gelesen habe.