Im Jahr 1899 entdeckt der deutsche Bankierssohn und Orientreisende Max von Oppenheim auf dem Ruinenhügel von Tell Halaf in Syrien mehrere monumentale Statuen aus antiker Zeit. Seine Ausgrabungen, die er 1911-1913 und noch einmal 1929 durchführt, bescheren ihm Weltruhm. Nachdem eine Übernahme durch das Vorderasiatische Museum Berlin scheitert, werden die Figuren von Göttern, Löwen und Mischwesen ab 1930 im eigens dafür gegründeten Tell-Halaf-Museum ausgestellt. 1943 dann die Katastrophe – eine Fliegerbombe zerstört das gesamte Gebäude, die kostbaren Statuen werden durch Feuer und Löscharbeiten in zehntausende Teile zersprengt. Nach Oppenheims Tod 1946 geraten die Fragmente, nun unbeachtet in einem Keller des Pergamon-Museums lagernd, in Vergessenheit. Erst in den 2000er Jahren führte ein großangelegtes Projekt zur Wiederauferstehung der Kulturschätze – in siebenjähriger Fleißarbeit konnten fast alle der kostbaren Figuren einigermaßen wieder zusammengesetzt werden, worauf 2011 mit der Sonderausstellung „Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf“ eine publikumswirksame Präsentation im Vorderasiatischen Museum folgte. Während einige Stücke wie etwa das Doppelsitzbild und der Raubvogel bis heute neben den ähnlich beeindruckenden Funden aus Sam’al/Zincirli in der Dauerausstellung zu bewundern sind, wird der Rest – einschließlich des rekonstruierten Palasttores mit seinen drei monumentalen Götterstatuen – in den kommenden Jahren Teil des renovierten Pergamon-Museums werden.
Zu der Ausstellung erschien ein gleichnamiger Begleitband, mit 400 Seiten ein stolzes Werk (ein ansprechendes Hardcover ohne nervenden Schutzumschlag), in dem die Geschichte der Funde eingehend dargestellt wird.
Zunächst jedoch, bevor es zum Inhalt geht, was das Werk nicht ist: Ein Katalog der Ausstellung, wie man ihn hätte erwarten sollen, mit systematischer Aufstellung aller präsentierten Objekte mit Fotografien ihres heutigen Zustandes und individuellen Erläuterungen. Nicht umsonst wird der Band nicht als Katalog, sondern mit dem mir sonst unbekannten Titel „Begleitbuch“ beworben, denn all dies, was einen archäologischen Ausstellungskatalog eigentlich ausmacht, fehlt. Nur einige Objekte sind in ihrer heutigen Erscheinung abgebildet, viele (wie etwa die Skorpionvogelmenschen und Sphingen) leider überhaupt nicht, nur im Rahmen der Fotos zum Kontext immer wieder zu sehen. Überhaupt kommen die archäologischen Funde relativ kurz – kaum vierzig Seiten entfallen auf die eisenzeitliche und neolithische Besiedlung von Guzana, so der antike Name des Tell Halaf, wobei manches durchaus oberflächlich bleibt. Ebenfalls nur recht kurz beschrieben werden die beeindruckenden Funde vom Djebelet el-Beda (riesige Monolithstelen aus dem 3. Jt. v. Chr.), die ebenfalls zur im Tell-Halaf-Museum ausgestellten Oppenheim-Sammlung gehörten. Für eine etwas tiefere Behandlung der archäologischen Funde und Befunde ist eher der Katalog zur Ausstellung „Abenteuer Orient: Max von Oppenheim und seine Entdeckung des Tell Halaf“ zu empfehlen, die nach Ende der „geretteten Götter“ in Berlin die Figuren und weitere Objekte in Bonn zeigte. Auch dort kommt Djebelet el-Beda sehr kurz, dafür werden jedoch neben Tell Halaf auch noch die anderen späthethitisch-aramäischen Kleinstaaten wie etwa Sam’al angeschnitten und mit dem Tell Halaf verglichen. Bis ins letzte Detail analysiert werden die archäologischen (Be)Funde vom Tell Halaf schließlich in der zeitnah erschienenen Fachpublikation „Tell Halaf – Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung“, die schon für kostengünstige 129,95 € zu erwerben ist.
Nun aber zu dem, was das „Begleitbuch“ denn ist: Ein großartiges Panorama der bewegten Forschungsgeschichte rund um Max von Oppenheim und seine sensationellen Funden, die heute endlich wieder zu den Highlights vorderasiatischer Archäologie im deutschen Raum zählen. Insgesamt 47 Beiträge oft namhafter Autoren nähern sich verschiedenen Aspekten rund um die Person Max von Oppenheim, dessen Ausgrabungen in Syrien im Kontext ihrer Zeit, das Tell-Halaf-Museum und das moderne Rekonstruktionsprojekt. Dahinter steckt Fachwissen – überall, wo es möglich ist, arbeiten und zitieren die Autoren nach den manchmal publizierten, oft auch unveröffentlichten zeitgenössischen Aufzeichnungen wie Briefen und Tagebüchern, die interessante und intime Einblicke geben in die Archäologie vor nun fast hundert Jahren. Da ist zum einen der historische Kontext, die Orientbegeisterung der Deutschen um 1900, verkörpert nicht zuletzt durch den prestigeträchtigen Bau der Bagdadbahn und den archäologieinteressierten Kaiser Wilhelm II. persönlich, einen persönlichen Bekannten Oppenheims. Doch stellen die Beiträge nicht nur den einen berühmten Heros der Wissenschaft ins Zentrum – so widmen sich mehrere auch den zahlreichen anderen Beteiligten der Ausgrabungen mit ihren individuellen Biographien, von Ärzten und Architekten bis zu Fotografen, nicht zu vergessen die zahlreichen einheimischen Arbeiter, die Oppenheim jedes Mal wieder anheuerte. Lebendiger noch als in einem Roman vermag man sich in den Grabungsalltag hineinzuversetzen, für uns noch mehr eine andere Welt als für die damaligen Europäer. Es sind dann nicht nur Biographien und organisatorische Details, die die Darstellungen prägen, sondern nicht zuletzt auch die zahlreichen kuriosen Anekdoten, die Oppenheim & Co. gnädigerweise für die Nachwelt dokumentierten: Die regelmäßigen Beduinenüberfälle (die in der Regel mit Verweis auf den mit Oppenheim befreundeten Scheich abgewiesen wurden), die Überführung eines Diebes mithilfe eines reisenden Sufis, die mehr oder minder freiwillige Tätowierung des Arztes Ludwig Kohl oder dass der treue Architekt Felix Langenegger wegen seiner voluminösen Gesichtsdekoration von den Arbeitern den Spitznamen Abu schuarib, „Vater des Schnurrbartes“ bekam. Mehr noch als der frühen Eisenzeit ist das Buch also eine kulturhistorische Studie von Orient und Okzident Anfang des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Facetten. Gerade der Stil des Sammelbandes hat somit Vorteile gegenüber einer Monographie, da somit zahlreiche einzelne Aspekte näher beleuchtet werden können, seien es nun der individuelle Bildhauer und der Fotograf für das Museum, die weniger bekannten naturkundlichen und islamischen Sammlungen Oppenheims oder auch der Blick der Restauratoren selbst auf das der Ausgrabung wohl ebenbürtige Wiederherstellungsprojekt der „geretteten Götter“. Nicht gespart wird bei den wohl hunderten zeitgenössischen Fotos, deren Bedeutung schon einst Max von Oppenheim und seine Zeitgenossen erkannt hatten (so kann man sich dann doch immerhin in Schwarzweiß ein gutes Bild der vielen Statuen machen, zumal noch im Zustand vor ihrer Zerstörung).
Mit den „geretteten Göttern aus dem Palast vom Tell Halaf“ ist der Wissenschaft nicht nur ein womöglich singuläres Restaurationsprojekt gelungen, sondern auch ein schier monumentales Begleitbuch, das einen breiten, wissenschaftlich fundierten und durchaus unterhaltsamen Einblick in die Forschungsgeschichte dieses interessanten Ausgrabungskomplexes gewährt. Biographie Max von Oppenheims und zahlreicher anderer heute vergessener Personen, Mentalitätspanorama und Ethnologie letztlich dreier Kulturkreise und schließlich die Geschichte der Funde selbst – zwar noch immer kein Ausstellungskatalog, aber in anderer Hinsicht viel mehr als das, ein Highlight in Sachen Wissenschaftsgeschichte.