Was haben Arminius und Martin Luther gemeinsam? Sie beide machten sich mit ihrem Aufstand gegen Rom einen Namen – und wurden dafür noch Jahrhunderte nach ihrem Tod als Heroen verehrt, weit über ihre historischen Taten hinaus als Sinnbilder deutschen Widerstands gegen den nationalen Feind der jeweiligen Epoche. Dies sind nur zwei jener zahlreichen „Nationalmythen“, die lange als Ikonen deutscher Identität gepflegt wurden, gleichsam diese Identität zu konstruieren halfen – obgleich doch besagten Männern selbst solch ein Verständnis von „Deutschtum“ zu Lebzeiten allzu fremd gewesen wäre.
„Die Deutschen und ihre Mythen“ heißt das Buch des bekannten Politikwissenschaftlers und de-facto-Historikers Herfried Münkler, das eine ganze Reihe solcher deutschen Mythen darstellt und so einen Eindruck gewährt in einen bedeutsamen Teil der Geisteswelt unserer Kultur, wie er sich über mehrere Jahrhunderte teils bis in die Gegenwart zieht. Denn wie jedes Land schuf sich auch Deutschland – umso mehr, da es gerade im neunzehnten Jahrhundert inmitten eines Flickenteppichs ungeeinter Kleinstaaten seine sich abzeichnende Identität verhandeln musste – ein Pantheon von Erzählungen, die seinen Platz in der Welt zu beschreiben hatten, Hoffnungen kanalisierten und als Exempla eines vermeintlich „deutschen“ Charakters galten, oft genug auch als unausweichliches Schicksal über mythosversessenen Patrioten schwebten: Unberührt von moderner Textkritik schuf man aus Tacitus‘ Germania ein Sittenbild des edlen, naturverbundenen und unverbildeten Germanen, den man dem intellektuellen und „überkultivierten“ Charakter der romanischen Völker gegenüberstellte. Vor 1871 verkörperte die Gestalt des Königs Friedrich Barbarossa, der im Inneren des Kyffhäusergebirges schlafen und dereinst wieder zu neuer Macht erwachen sollte, die Sehnsucht nach einer Wiederauferstehung eines geeinten Reiches. Der Untergang der Burgunden im Nibelungenlied avancierte nicht trotz, sondern gerade wegen des tragisch übersteigerten Kadavergehorsams zum moralischen Ideal, dem man nacheiferte bis hin zur mythisch überhöhten Todessehnsucht und der fatalen Schicksalsergebenheit, in der sich die Führer der Dritten Reiches schließlich wähnten. Und schließlich wäre da auch Faust, aus dessen widersprüchlichem Charakter in der Darstellung Goethes man eine ganze Reihe verschiedenster typisch „deutscher“ Charakterzüge erkennen wollte. Wie kaum anders zu erwarten, erlebten die Mythen eine Hochzeit im nationalistisch aufgeladenen neunzehnten Jahrhundert, vielfach in Literatur und Propaganda ausgeschlachtet und immer wieder neuinterpretiert. Was im Kaiserreich und schließlich, teils ins Groteske hochstilisiert, im Nationalsozialismus eine blühende Rezeption erlebte, kam mit dem Jahr 1945 fast gänzlich zum Erliegen – ein wohl seltener, wenn nicht historisch einzigartiger kultureller Schnitt, jener Bruch mit fast der Gesamtheit identitätsstiftender Erzählungen, der eine solch distanzierte Untersuchung wie von Seiten Münklers vielleicht erst möglich und nötig machte. Auch die wenigen großen Erzählungen der Nachkriegszeit – Währungsreform und Wirtschaftswunder im Westen, antifaschistischer Widerstand und alliierter Bombenterror im Osten – werden behandelt, doch wird angesichts dessen doch die Mythenarmut des heutigen Deutschlands offenbar, in dem kollektive Nationalgeschichten zunehmend von kurzlebigen PR-Konstrukten verdrängt worden sind.
Auf rund 600 Seiten – davon jedoch ein respektabler Teil Anhang mit unzähligen hintergründigen Erläuterungen – entwirft Münkler ein repräsentatives Panorama jener bedeutsamen Erzählungen der deutschen Geschichte. Nicht geht es darum, diese historisch zu dekonstruieren, ihren Inhalt etwa an historischen Fakten zu messen (wie es etwa bei Luthers Thesenanschlag oder dem berühmten Gang nach Canossa zu desillusionierenden Ergebnissen führen würde) – vielmehr steht die Rezeption der Mythen im Mittelpunkt. Auch diese ist nicht als statisch aufzufassen – vielmehr zeichnen sich Mythen gerade dadurch aus, dass sie im Laufe der Zeit und auch zeitgleich verschiedene Formen annehmen, mithin in völlig entgegengesetzte Richtungen ausgedeutet werden. So scheint dann auch ein beträchtlicher Sachverstand bei Münkler durch, wenn genaue historische Abrisse mit einer Vielzahl von Auszügen der zeitgenössischen Literatur und sonstigen Geistesgeschichte verbunden werden. Und obwohl es sich eigentlich um ein Sachbuch handelt, das man sicher auch deutlich trockener hätte gestalten können, gelingt dem Autor ein durchgehend sehr flüssig zu lesender Stil, der trotz viel Stoff ohne wirkliche Längen auskommt. Schade allein, dass zig Seiten auf teils umfangreiche Fußnoten im Anhang entfallen, die man im natürlichen Lesefluss doch leider auslassen muss, will man nicht permanent hin und zurück blättern. Natürlich hätte Münkler unmöglich alle deutschen Nationalmythen in einer Monographie behandeln können – gewisse Aspekte fehlen zwangsläufig, seien es nun Bismarck oder auch das eigentlich potentiell hochinteressante Thema der Rezeption des Dritten Reiches im historischen Denken der Nachkriegsgenerationen. Insgesamt aber bildet „Die Deutschen und ihre Mythen“ einen fundierten Rundumschlag über einen Großteil jener Motive und Erzählungen, die im Geschichts- und Nationaldenken der Deutschen einen großen Stellenwert haben oder – häufiger – hatten, von der ikonischen Varusschlacht bis hin zum preußischen Sittenideal und der Schlagzeile „Wir sind Papst“.