So manche begeisterte Leser des „Herrn der Ringe“ beginnen irgendwann einmal das „Silmarillion“ und sind wenig später frustriert über Stil und Komplexität des Werkes. Weniger bekannt: Von den meisten im Silmarillion erzählten Geschichten existieren noch ältere, detaillierter ausformulierte Fassungen, die J. R. R. Tolkien in früheren Jahrzehnten lange vor seinen berühmten Romanen niederschrieb. Obwohl zeitlebens unveröffentlicht und als Gesamtwerk nie vollendet, sind die meisten dieser „Verschollenen Geschichten“ doch inhaltlich vollständig und lesbar. Eingebettet sollten sie ursprünglich in eine Rahmenhandlung sein, die von dem Seefahrer Eriol erzählt, welcher auf der fernen Insel Tol Eressa bei den Elben landet und sich deren Mythologie bzw. Geschichte erzählen lässt. Freilich gibt es gerade bei den Übergängen zwischen den Geschichten so einige Lücken; auch sind einige der in der Mitte eingeplanten Geschichten letztlich nie geschrieben worden. Das Ergebnis: Einleitende Bemerkungen vor und ein zig Seiten langer Kommentar nach einem jeden Text, indem Christopher Tolkien, Sohn des Autors und Herausgeber, die komplexe Quellenlage darlegt, Hintergründe erläutert und die Texte mit anderen Varianten, Konzeptentwürfen und den späteren Fassungen im Silmarillion abgleicht. Das ist mitunter interessant, doch bisweilen dürfte ein bloßes Überfliegen der zahlreichen Kleinigkeiten dem Lesegenuss zuträglicher sein.
Doch all das soll nicht vom Kern des in zwei Teilen veröffentlichten Werkes ablenken, den Geschichten nämlich. Jene im ersten Band berichten vor allem von der Erschaffung und Formung der Welt durch die Valar (~Götter) – der Gesang der Ainur, die ersten Konflikte mit dem abtrünnigen Melko (später Melkor/Morgoth), Erschaffung und Zerstörung der zwei Bäume von Valinor et cetera. Zugegeben, diese Texte sind trotz des visionär-atmosphärischen Stils oft langatmig (etwa wenn genauestens die Behausungen von allen hohen Valar beschrieben werden). Ob man nun diese detaillierten Fassungen oder die gekürzten im Silmarillion bevorzugt (oder, Ilúvatar verhüte, keine von beiden!), ist wohl Geschmackssache.
Etwas anders sieht es beim zweiten Teil der „Verschollenen Geschichten“ aus, bei dem der Schwerpunkt auf den Heldengeschichten des 1. Zeitalters liegt. So finden wir hier alle drei großen Erzählungen: die von Beren und Luthien (zu diesem Zeitpunkt noch „Tinúviel“), die von Túrin Turambar und jene vom Fall Gondolins, alle drei vollständig und ausformuliert. Die Geschichte von Tinúviel ist nicht so viel ausführlicher als jene spätere Fassung im Silmarillion, unterscheidet sich jedoch in einigen Handlungselementen von jener – man kann sie schwerlich als besser oder schlechter bewerten. Hingegen unterscheidet sich die Túrin-Geschichte inhaltlich eher wenig von der späteren Fassung (in „Nachrichten aus Mittelerde“ und geglättet/rekonstruiert in „Die Kinder Húrins“), ist aber etwas kürzer – wenn auch noch ausführlicher als jene im Silmarillion. Wo indes eindeutig die „Verschollenen Geschichten“ hervorragen, ist „Der Fall von Gondolin“ (im Silmarillion in wenigen Sätzen abgefrühstückt und auch sonst in keiner anderen vollständigen Fassung erhalten). Diese Schilderung der Eroberung der Elbenstadt Gondolin durch die Truppen Morgoths von Novellenlänge stellt meines Erachtens den besten Teil der „Verschollenen Geschichten“ dar. Hier ist die Atmosphäre nicht abgehoben-mythologisch wie bei manch anderen Texten, sondern allzu lebendig direkt im Geschehen verwurzelt, vom Spannungs- und Unterhaltungswert auf einer Stufe mit den ausgereiften Meisterwerken Tolkiens (besonders bemerkenswert: die an moderne Panzer erinnernden mechanischen Drachen).
Ohne jeden Zweifel: Die „Verschollenen Geschichten“ sind etwas für Nerds, schon allein des massiven philologischen Kommentars wegen. Mutmaßlich dürfte auch das Verständnis ohne ein gewisses Vorwissen zum 1. Zeitalter durchaus erschwert sein. Im Verhältnis zum Silmarillion indes stellen die „Verschollenen Geschichten“ weder eine „eingängigere“ Alternative noch eine bloße überflüssige Frühfassung dar; vielmehr haben beide Werke ihren eigenen Reiz und erleichtern wiederum das Verständnis des jeweils anderen. Für solche schließlich, die liebend gerne in die Tiefen phantastischer Welten eintauchen (und ich meine: TIEFEN), sind diese frühen, doch bemerkenswert ausgereiften Tolkien-Werke eine Goldgrube. Definitiv verdienen es die „Verschollenen Geschichten“, in einer Reihe mit den anderen großen Mittelerde-Werken genannt zu werden.
Kleine Anmerkung: Ich las die im als „Die Sagen von Mittelerde“ betitelten Sammelschuber enthaltene Ausgabe des Werkes. Über die wohl inhaltsgleiche, hier gezeigte Ausgabe vermag ich bzgl. Aufmachung etc. kein Urteil abzugeben.