Endlich ein neuer Tolkien!
Diese Nachricht tönte durch alle Medien, als vor kurzem die baldige Veröffentlichung von „Beren und Luthien“ angekündigt wurde. Natürlich war von Anfang an klar, dass niemand einen zweiten Herrn der Ringe aus dem Hut gezaubert hatte, sondern dass es sich um eine neue Rekombination gewisser Fragmente aus dem Nachlass des legendären Autors handeln müsse. Ich hatte mir das Werk ähnlich vorgestellt wie „Die Kinder Húrins“ (von dem ich recht angetan war), wo aus den verschiedenen unvollständigen Fassungen Tolkiens ein einheitliches, als Roman lesbares Manuskript „rekonstruiert“ wurde. Dies zu meiner Enttäuschung war bei „Beren und Luthien“ nicht der Fall.
Bei dieser Geschichte handelt es sich zweifellos um eine der bedeutendsten des gesamten Mittelerde-Kosmos, zumal die, die Tolkien selbst vielleicht am wichtigsten war. Angesiedelt im Ersten Zeitalter Mittelerdes, berichtet sie von der problematischen Liebe der Elbenprinzessin Luthien/Tinúviel (letzteres der Name in der ersten Fassung, später Beiname) mit Beren (der in der ersten Fassung noch ein Elb, später dann ein Mensch war). Luthiens Vater, Elbenkönig Thingol, will die Verbindung unbedingt verhindern und fordert von Beren, einen Silmaril (legendärer Edelstein) aus der Krone des dunklen Herrschers Morgoth zu entwenden. Tatsächlich macht sich nun Beren auf den Weg, die unlösbare Aufgabe zu erfüllen, wobei ihm Luthien natürlich wenig später zur Hilfe eilt.
Tolkien begann zu Lebzeiten mehrmals, die Geschichte niederzuschreiben. Weitgehend vollständig, aber noch in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung des Legendariums beheimatet, ist die „Geschichte von Tinúviel“ (erschienen im zweiten „Buch der verschollenen Geschichten“). Später begann er das sogenannte „Leithian-Lied“, eine Fassung der Sage in Stabreimform, doch blieb diese unvollendet. Und schließlich gibt es noch die verkürzte, zusammenfassende Version aus dem Manuskript, das post mortem das Silmarillion wurde. Doch anders als bei „Die Kinder Húrins“, wo die Quellenlage wenig anders aussah, verzichtete Erbe und Herausgeber Christopher Tolkien hier darauf, aus all dem einen einheitlichen Text zu formen. So liest sich das Buch nun weniger wie eine Fantasy-Geschichte, als vielmehr wie eine literaturwissenschaftliche Arbeit darüber. Auf einige einleitende Kapitel folgt die komplette „Geschichte von Tinúviel“, daran wiederum schließen sich abwechselnde Abschnitte der anderen beiden Fassungen an. Die Geschichte wird letztlich also in drei verschiedenen Versionen teils nacheinander, teils parallel durchgekaut. Jeglicher Spannung beugt das natürlich vor – zumal die Stabreimform nicht nur ungewohnt, sondern in der deutschen Übersetzung auch vollkommen unrhythmisch ist. Man muss Christopher Tolkien zugutehalten, dass er durchaus eine sehr gute Quellenedition angefertigt hat, ausgezeichnet kommentiert und kontextualisiert. Alles was, man sich nur wünschen kann also – würde es sich doch bei der Grundlage um eine echte mythische Erzählung handeln, wären die Fragmente doch wirklich irgendwelchen jahrtausendealten Tontafeln entnommen. So aber bleibt es bei der Faszination, dass das Werk eines modernen Autors sich letztlich genauso verhält wie ein wirklich historisch gewachsener Mythos in all seiner Vielgestalt.
Zweifellos ist das Buch interessant für Tolkien-Interessierte, nicht aber für all jene, die nur mit der Herr-der-Ringe-Filmtrilogie sozialisiert wurden. Jenen, die bloße Fantasy-Unterhaltung aus Mittelerde suchen, sei neben dem HdR und Hobbit vielmehr „Die Kinder Húrins“ empfohlen, allenfalls noch die „Verschollenen Geschichten“. „Beren und Luthien“ indes ist keine Fantasy – es ist eine Studie zu einer Mythologie, deren einziger Fehler es ist, noch keine tausend Jahre alt zu sein.