Die Mythen der alten Griechen faszinieren die Menschen der westlichen Welt bis heute. Zahlreiche populär geschriebene Bücher mit Nacherzählungen der Geschichten um Zeus, Herakles, Odysseus & Co. gibt es – die doch leider allesamt nur einen kleinen Teil der Zahl und vor allem Varianten der Mythen abdecken und darüber hinaus selten auf die zugrundeliegenden Quellen Bezug nehmen. Eine zwar eher trockene, aber nicht minder informative Alternative gibt uns jedoch die Antike selbst zur Hand: Die „Bibliotheke“ des Apollodor (vermutlich aus dem 1. Jhd. n. Chr. verfasst). Zugegeben, der Verfasser ist nicht wirklich der berühmte Apollodor(os) von Athen, dem das Werk traditionell zugeschrieben wurde, sondern ein uns unbekannter Autor dieses oder eines anderen Namens. Doch das tut dem Werk keinen Abbruch – „Pseudo-Apollodor“, wie die Geschichtswissenschaft ihn wenig schmeichelhaft nennt, hat ein wirklich erstaunliches und interessantes Handbuch der Mythologie geschaffen: Ob nun die Theogonie, die Heldentaten von Herakles und Theseus, die Begebenheiten rund um den Trojanischen Krieg und zahlreiche Geschichten und Genealogien um Gestalten, von denen man noch nie zuvor gehört hat – auf rund zweihundert Seiten (modern) werden unzählige Mythen nacherzählt, ein gewaltiger Abriss der Mythologie, der Schwab und seine neuzeitlichen Kollegen an Inhalten deutlich in den Schatten stellt. Freilich, das geht auf Kosten der Unterhaltsamkeit: Pseudo-Apollodor gibt nichts auf Poesie und kunstvolle Gestaltung wie noch Homer und Hesiod, stattdessen wird der Stoff einfach stark komprimiert durchexerziert. Das mag sicher vielen Lesern öde erscheinen; ich indes hatte keine Schwierigkeiten damit. Natürlich ist auch diese Mythensammlung nicht vollständig – keinem wird es jemals gelingen, die Gesamtheit der griechischen Mythen in allen Varianten zu erfassen. Doch zumindest nähert sich Apollodor dem ziemlich gut an – selbst für einen Mythologie-Kenner sind zahlreiche Geschichten neu. Hin und wieder wird auch auf verschiedene Versionen bzw. Erzähltraditionen hingewiesen, doch in der Regel bleibt es schlicht bei einer bzw. der populärsten Version.
Doch auch wenn der Stil eben kein allzu unterhaltsamer ist (man gewöhnt sich trotzdem gut daran), so bleibt Pseudo-Apollodor doch eine der ergiebigsten verfügbaren Quellen zur griechischen Mythologie, einzuordnen wohl gleich hinter Homer und Hesiod. Auch über die vorliegende Ausgabe ist nur Gutes zu sagen: Anders als in anderen Ausgaben antiker Klassiker im Anaconda-Verlag liegt hier nicht eine uralte, sondern eine immerhin im letzten Jahrhundert überarbeitete Übersetzung vor, die dementsprechend quellennah sein dürfte, gut zu lesen ist und keine sichtbaren orthografischen Fehler aufweist. Hinzu kommen ein lesbares, aber nicht unbedingt nötiges Nachwort über griechische Mythologie allgemein, ein umfangreiches Register und eine Reihe von Stammbäumen der im Werk behandelten Geschlechter. Zwar ist das Werk leider nicht vollständig erhalten, doch die vorliegende Ausgabe enthält zumindest alle noch verfügbaren Teile, darunter auch die sogenannten Epitome. Auch in Anbetracht des bescheidenen Preises ist die „Bibliotheke“ – veröffentlicht unter dem Namen „Götter- und Heldensagen“ – eine definitiv lohnenswerte Anschaffung für jeden an der Mythologie Interessierten.