3300 BC – Mysteriöse Steinzeittote und ihre Welt

Eine der faszinierendsten und meistdiskutierten Epochen der europäischen Vorgeschichte stellt das Neolithikum dar. Doch während gerade die Neolithisierung – die Ablösung der nacheiszeitlichen Jäger und Sammler durch Ackerbauern etwa der linienbandkeramischen Kultur – immer wieder Objekt größten Interesses ist, tritt das Jung- bis Spätneolithikum, genauer das vierte Jahrtausend vor Christus, allzu häufig in den Hintergrund. Es war dies nicht nur die Blütezeit der europäischen Megalithkulturen, von der Trichterbecherkultur mit ihren Hünengräbern und Langbetten im Norden bis zu den Erbauern der riesigen Megalithtempel von Malta im Süden, sondern auch die Zeit einer „zweiten neolithischen Revolution“, gekennzeichnet durch die erstmalige Entdeckung des Rades und der tierischen Zugkraft, die mit Pflug und Wagen nie zuvor gekannte Möglichkeiten der Landnutzung eröffneten. Ausgerechnet dieser Zeit widmete sich die Ausstellung „3300 BC – Mysteriöse Steinzeittote und ihre Welt“ des Museums für Vorgeschichte in Halle, zu der auch der gleichnamige Katalog erschien.
Im Zentrum der Ausstellung standen die neuesten Ausgrabungen am Erdwerk von Salzmünde, eponymer Fundplatz der Salzmünder Kultur (ca. 3400-3050 v. Chr.). Zu den beeindruckendsten Funden zählen mehrere verzierte Trommeln aus Ton, meisterhaft bearbeitete Prunkäxte aus Stein – und die namensgebenden „mysteriösen Steinzeittoten“. Neben Steinkisten sind besonders die sogenannten Scherbenpackungsgräber für die Salzmünder Kultur charakteristisch, in denen die Toten unter einer dicken Schicht zu Scherben zerschlagener Keramik beigesetzt wurden – einzigartig dabei das dicht gedrängte Begräbnis von ganzen neun Individuen, darunter fünf Kindern, unter deren Scherbenpackung offenbar ein Haus rituell abgebrannt wurde.
Der Katalog widmet den Funden von Salzmünde mehrere Kapitel – detailliert beschrieben die Funde, die historischen Kontexte und Interpretationen, am allermeisten natürlich die teils rätselhaften Bestattungen, welche zusätzlich zur Erläuterung im Fließtext mitsamt den Erkenntnissen der anthropologischen Untersuchungen in Form von Steckbriefen vorgestellt werden.
Doch bildet Salzmünde hierbei nur den Aufhänger für ein viel weiteres Panorama des europäischen Jung- und Spätneolithikums – auf fast 400 Seiten vereint „3300 BC“ eine Vielzahl an Beiträgen zu dieser Zeitepoche, weit über die Grenzen Sachsen-Anhalts hinaus:

  • zahlreiche allgemeine Artikel zum Neolithikum – zur Neolithisierung und der „zweiten neolithischen Revolution“, Bevölkerungsdynamik, Krieg und nicht zuletzt der (regionalen) Forschungsgeschichte
  • verbunden mit der erstmaligen Einführung von Zugtieren auch Kapitel über die spektakulären Rinderbestattungen von Profen und Niederwünsch
  • das Phänomen der hochwertigen Jadeitbeile, die während des Neolithikums durch weite Teile Europas gehandelt und jüngst in einem neuen Forschungsprojekt erforscht wurden
  • die oft romantisch verklärten Pfahlbausiedlungen im Alpenraum
  • Ötzi, ohne Zweifel der berühmteste „mysteriöse Steinzeittote“ von allen
  • die Megalithanlagen des Nordens (Trichterbecherkultur), der Dölauer Heide, der Bretagne, der Iberischen Halbinsel, Maltas, Irlands, Italiens und sogar der Orkney-Inseln
  • der blutige Ritualort Herxheim und fünf weitere Kapitel allein zum Phänomen der neolithischen Erdwerke
  • mehrere Beiträge aus der Ethnologie zum Thema Ahnenkult, die – zumindest annähernd durch Analogien – die oft rätselhaften Funde der Vorgeschichte etwas verständlicher zu machen versuchen

Großartig allein schon ist der Versuch, neben allerlei fundierten allgemeinen wie speziellen Themen auch noch die europäische Megalithik in einer solchen Breite darzustellen, dabei eingebunden auch mehrere recht unbekannte und doch nicht weniger beeindruckende Monumente. Doch so sehr mir auch das Herz aufgeht, im Kapitel zur norddeutschen Megalithik den wunderbaren Dolmen von Goosefeld nahe meines Heimatortes abgebildet zu sehen, so bleiben doch leider die Kapitel zu den Megalithkulturen überwiegend recht kurz. Im Umfang eines einzigen solchen Sammelbandes ist jedes einzelne weitere dieser zahlreichen archäologischen „Appetithäppchen“ respektabel, doch trotz hervorragender Abbildungen bleibt es schlichtweg unmöglich, etwa die Monumentalbauten der Trichterbecherkultur oder der maltesischen Megalithzeit auf oft unter fünf Seiten einigermaßen repräsentativ darzustellen – hier muss dann doch im Zweifel auf andere Publikationen zurückgegriffen werden, wozu aber immerhin überall eine Auswahl an Literaturverweisen gegeben wird (überhaupt ist die gute Ausstattung des Bandes mit Quellen zu einem jeden Kapitel positiv hervorzuheben). Anders sieht es etwa beim Thema Erdwerke aus; hier gelingt mit einer guten Auswahl an Beispielen auf verhältnismäßig mehr Raum ein etwas repräsentativerer Überblick.
Auch wenn ich die zugrunde liegende Ausstellung leider nie besuchen konnte – zum Glück sind immerhin zahlreiche der spektakulären Funde (Prunkäxte, Rinderbestattungen etc.) auch dauerhaft in Halle ausgestellt – so genügt doch schon der informative Katalog zur Begeisterung. Dass die Zusammenstellung der einzelnen Themen manchmal etwas willkürlich wirkt, tut dem Sammelband keinen Abbruch – im Gegenteil, ein Überblick über so viele der interessantesten Funde des vierten Jahrtausends v. Chr. ergibt insgesamt ein Panorama mit vielen Reizen für den interessierten Ur- und Frühgeschichtler. Die Präsentation geizt nicht mit großartigen Bildern und prägnanten Graphiken, wann immer diese angemessen sind, und erläutert dabei mehr zu all jenen archäologischen Highlights, als man realistischerweise aufnehmen kann. Sowohl als allgemeiner Überblick über die Monumentalbauten, Bestattungssitten und grundlegenden Prozesse des Jung- und Spätneolithikums wie auch als spezielle Darstellung gerade der vielfältigen Funde von Salzmünde bleibt „3300 BC“ in Erinnerung – ein Sammelband, den man als Vorgeschichtsinteressierter nicht nur durchlesen, sondern auch später wieder aufschlagen wird.

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