Fakten und Fiktionen: Archäologie vs. Pseudowissenschaft

„Fakten und Fiktionen: Archäologie vs. Pseudowissenschaft“. Kaum zu glauben, dass sich die renommierte Reihe „Zaberns Bildbände zur Archäologie“ auf solch kontroverses Terrain begibt – und doch bitter nötig, florieren doch pseudowissenschaftliche Thesen über unsere Vergangenheit heutzutage mehr denn je. Herausgegeben von dem Ägyptologen Stefan Baumann, versammelt der großformatige Band eine Reihe von Beiträgen verschiedener Autoren rund um unwissenschaftliche Deutungen der Geschichte, von Atlantis bis Zecharia Sitchin. Natürlich sind sämtliche Autoren der akademischen Wissenschaft („Schulwissenschaft“) zugehörig, folglich den behandelten Theorien gegenüber kritisch bis ablehnend eingestellt – trotzdem gelingt es ihnen in der Regel, nicht arrogant den Zeigefinger akademischer Überheblichkeit zu erheben und ihre doch bisweilen durchaus harten Anschuldigungen gegen die Vertreter der Gegenseite hinreichend zu belegen. Erwähnenswert ist hier auch die kritische Antwort auf die zweifelhafte Interpretation des „Berliner Goldhuts“ als astronomisches bzw. kalendarisches Artefakt – geschieht diese letztlich pseudowissenschaftliche Darstellung doch nicht etwa durch außerakademische Autoren, sondern aus der Mitte des wissenschaftlichen Mainstreams heraus, wie auch in der musealen Präsentation des Objekts unübersehbar.
Die einzelnen Kapitel stecken dabei ein weites Spektrum ab: Zunächst gibt Baumann selbst eine Einführung in die Situation und charakteristische Argumentationsmuster der Grenzwissenschaft; darauf folgt ein historischer Rückblick auf die pseudowissenschaftliche Geschichtsvereinnahmung etwa im Faschismus und Kolonialismus durch Markus Bittermann. Beides im Prinzip hochinteressante Themen und gut geschriebene Beiträge – jedoch leiden beide stark an ihrer Kürze, womit sie einen nur unzureichenden Überblick zu geben vermögen. Es schließt sich ein Exkurs über die Auffindung der Moorleiche „Moora“ und deren Rezeption in den Medien (etwa „Galileo Mystery“) an – für sich ebenfalls interessant, auch wenn hier das Hauptthema des Buches etwas großzügig ausgelegt wird. Gerlinde Bigga gibt als nächstes einen (unvermeidlich) knappen, aber doch breiten und fundierten Überblick über die Geschichte der Interpretation von Fossilien, vom Museum des Kaisers Augustus bis zum Zeitalter Darwins. Sehr interessant sind mehrere der folgenden Kapitel, die sich mit spezifischen archäologischen Themen befassen – so etwa der Kunst der Späteiszeit (im Kontrast zum vorgestrigen Bild eines „primitiven Steinzeitmenschen“), dem angeblichen Petrusgrab unter dem Vatikan (das, wie hier sehr gut herausgestellt wird, mit ziemlicher Sicherheit nie existiert hat) oder der diffusen Entstehung Roms, die selbst in populärwissenschaftlichen Darstellungen noch immer gerne auf Romulus und Remus verkürzt wird. Joscha Gretzinger stellt den teils bis heute wirkmächtigen pseudowissenschaftlichen Rassentheorien die empirischen Fakten der Genetik entgegen, ein weit über die Grenzen der Archäologie und Anthropologie hinaus sozial relevantes Thema. Das Highlight des Buches, ebenfalls verfasst vom Herausgeber Stefan Baumann, ist schließlich ein Kapitel über die Rezeption des alten Ägypten durch Grenzwissenschaftler wie etwa Erich von Däniken, in dem er eines nach dem anderen eine ganze Reihe einschlägiger Funde und Thesen anhand der ägyptologischen Erkenntnisse widerlegt (Datierung, Zweck, Bauweise und angebliche astronomische Ausrichtung der Pyramiden; Helikopter etc. von Abydos, „Glühbirnen von Dendera“, „Flugzeug von Sakkara“, „Bagdad-Batterien“) – knapp und doch bemerkenswert stringent, dabei durchweg durch Belege gestützt. Etwas weniger breit gefächert ist der nächste Artikel bezüglich der Thesen Zecharia Sitchins (sumerische Götter, die Anunnaki, kamen einst vom zwölften Planeten Nibiru und erschufen die Menschheit). Dieser hat zwar ebenso eine ordentliche fachliche Qualität, konzentriert sich aber auf nur zwei zentrale Aspekte im Werk Sitchins: Die „Dingir-Rakete“ und die These des 12. Planeten. Schließlich gibt es auch noch ein Kapitel über das schon so oft lokalisierte Atlantis, wobei hier der Überblick zugunsten einer fast ausschließlichen Betrachtung der Thesen Eberhard Zanggers (Atlantis sei identisch mit Troia) zurückgestellt wird – der schwächste Beitrag im Buch, da über eine Reihe von Argumenten gegen Zangger hinaus vollkommen oberflächlich; auf andere Atlantis-Hypothesen wird nicht einmal eingegangen und diese letztlich alle relativ pauschal abgelehnt.
Davon vielleicht abgesehen weisen letztlich alle Beiträge in „Fakten und Fiktionen“ (bei gleichzeitig allgemeiner Verständlichkeit) eine hohe wissenschaftliche Qualität auf – die Argumente sind folgerichtig und nicht erzwungen, zugrunde liegt eine wirkliche Auseinandersetzung und keine oberflächliche Ablehnung. Indes gelingt es dem Werk doch nur bedingt, einen Überblick über das gewaltige Themenfeld zu bieten – dafür ist es mit kaum mehr als 140 Seiten einfach nicht umfangreich genug. Während einige Artikel penibel einzelne, klar umgrenzte Themenfelder aufarbeiten (u.a. Petrusgrab, Rom), sind die weiter gespannten dann doch zu kurz und oberflächlich für das eigentlich so komplexe Thema – nicht sachlich mangelhaft, aber doch unvollständig. Ebenso bleiben zentrale Themen der „alternativen Archäologie“ außen vor – so etwa das meiste aus dem Umkreis des Kreationismus und Katastrophismus (u.a. deren „Out-of-Place-Artefakte“ sowie scheinbare Beweise für eine Koexistenz von Menschen und Sauriern), weite Teile der Prä-Astronautik (bis auf Ägypten und Sitchin, beides großartig, leider nicht repräsentiert, so etwa Dänikens zahlreiche Südamerika-Fundstellen), Diffusionismus und seine scheinbaren Belege (so die vielen ominösen Fundkomplexe Amerikas) und einiges mehr. Gerade in Anbetracht des stolzen Preises von 39,95€ hätte man neben der soliden Qualität auch durchaus etwas mehr Quantität erwarten können. Immerhin die vorliegenden Beiträge gleichen ihren allzu knappen Umfang durch eine gute Ausstattung mit Quellenangaben aus, die der weiteren Recherche dienen können.
Anders als man vielleicht erwarten könnte, ist „Fakten und Fiktionen“ also alles andere als ein Überblickswerk – auch insofern, dass manche der behandelten Themen kaum die Themen der heute aktuellen Grenz- bzw. Pseudowissenschaft berühren. Was hingegen vorliegt, ist von nicht zu beanstandender Qualität und durchweg lehrreich. Letztlich also nicht ganz das Buch, das wir verdienen, aber doch eines, das wir sehr gut gebrauchen können.