Nervöser Orient: Die arabische Welt und die Moderne

Was stimmt eigentlich nicht mit dem Nahen Osten?
Was sich sicher schon viele Europäer in den letzten Jahren gefragt haben, versucht Kersten Knipp in seinem voluminösen Sachbuch „Nervöser Orient“ zu beantworten. Das rund 400 Seiten starke Werk bietet einen allzu lebendigen Abriss der Geschichte der arabischen Länder in den letzten zwei Jahrhunderten – zwei Jahrhunderte zwischen Fortschritt und Rückfall, Hoffnung und Enttäuschung. Mit Napoleons Einmarsch in Ägypten begann von heute auf Morgen der Zusammenprall des arabischen Kulturraumes, damals noch beherrscht vom einst mächtigen Osmanischen Reich, das seinen Zenit längst überschritten hatte, mit dem im kulturellen Aufbruch begriffenen Westen. Mehr noch aber als die hehren Ideale der französischen Revolution brachten die Europäer Ausbeutung und Unterdrückung in ihrem meist skrupellosen Machtstreben – ermöglicht durch eine den Einheimischen schmerzlich bewusst werdende technologische Überlegenheit. Noch während des 19. Jahrhunderts gelang es England und Frankreich, weite Teile des Orients zu vereinnahmen – die arabische Welt wurde zum Spielball der strategischen Interessen des Westens. Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches entstanden schließlich neue Staaten, zunächst umso mehr das Ergebnis westlichen Hegemoniestrebens. Bewunderung und Ablehnung der westlichen Moderne manifestierten sich gleichermaßen, brachten Inspiration zum Fortschritt und Rückkehr zur vermeintlichen Vergangenheit in Form eines immer radikaleren Islam.
Anhand mehrerer Episoden und Abrisse erzählt Knipp die Ereignisse und Entwicklungen, die das Verhältnis von Orient und Okzident seit der Zeit Napoleons prägten: Einen großen Raum nimmt Ägypten ein, erst unter Franzosen und Engländern, dann über den Bau des Suez-Kanals bis zur Zeit der Unabhängigkeit, geprägt vom Konflikt mit Israel und dem unter unter der Diktatur zunehmend maroden Staat. Ebenso kommt die Herausbildung Saudi-Arabiens mit seinem radikalen Wahhabismus zur Sprache, daneben die so parallele Entstehung der Staaten Syrien und Irak und auch punktuell die Schicksale weniger bekannter Staaten, Libanon und Algerien etwa. Der Bogen wird gespannt über das zwanzigste Jahrhundert mit seinen herausragenden Gestalten wie dem syrischen und irakischen König Faisal I., Nasser bis Mubarak in Ägypten und dem irakischen Despoten Saddam Hussein bis hin zum „Arabischen Frühling“ und dem (zum Zeitpunkt der Drucklegung) aktuellen Aufstieg des IS. Einige Länder und Zeitabschnitte bleiben zwangsläufig im Dunkeln, doch gelingt letztlich ein breiter und doch detaillierter Überblick.
Obgleich die historischen Ereignisse eingehend skizziert werden, so ist dem Autor doch die Kulturgeschichte nicht weniger wichtig. Die Geistesströmungen der sich wandelnden Zeitalter werden eingefangen durch zahlreiche zeitgenössische Zitate, die umso mehr die allgemeine Stimmung und Gedankenwelt der Menschen zum Leben erwecken. Ebenso spielen auch exemplarische Gestalten etwa der Philosophie und Literatur eine Rolle – gerade dies eine Perspektive, die hierzulande völlig unbekannt ist. So ist gerade auch interessant, dass es durchaus Ambitionen zu einer Modernisierung des Islam gab in der jüngeren Geschichte, die doch aus komplexen Gründen zum Scheitern verurteilt waren. Auch ohne dass ständig die überzeitlichen Auswirkungen betont werden, erklärt das Buch doch letztlich allzu verständlich das hochkomplexe Geflecht von Ereignissen und Faktoren, die zu den so viel bekannteren Ereignissen der letzten Jahrzehnte führten. Allzu gerne werden die Krisen der heutigen Zeit pauschal auf eine vermeintlich einfach nur rückständige Gesellschaft oder aber das verfehlte Engagement des Westens (im Kolonialzeitalter gleichwohl wie in jüngster Vergangenheit) zurückgeführt. Beides hat eine gewisse Substanz und doch einen viel tieferen und differenzierteren Hintergrund, ist doch auch gerade das Erstarken reaktionärer Bewegungen kaum zu trennen von der allzu plötzlichen und demütigenden Konfrontation mit dem übermächtigen Westen. Es geht nicht darum, einer Partei – ob Staat, Mensch oder Religion – die Schuld zuzuschieben, wo diese doch wie Henne und Ei einander stets wechselseitig bedingt haben. Gleichwohl spricht Knipp auch die realen – auch kulturellen und religiösen – Problematiken aus und ordnet sie gleichsam in den größeren Kontext ein. Idealistische Reformbewegungen gingen ebenso aus einem Geflecht von Ursachen hervor wie Diktaturen und islamistischer Terrorismus  – von denen sie allzu oft kaum zu unterscheiden waren. Zumindest soweit in einem einzigen Buch dieses Umfangs möglich gelingt es Knipp, diese Prozesse verständlich nachzuzeichnen – die Entwicklung idealistischer und stagnierender Diktaturen ebenso wie die Ursprünge des modernen Islamismus.
Gegenwart kann oft nur auf Basis der Geschichte verstanden werden – kaum irgendwo gilt dies so sehr wie für den Nahen Osten, wo uns doch die historischen Hintergründe so viel fremder sind als die Bilder der gegenwärtigen Ereignisse. Dazu leistet „Nervöser Orient“ nun einen mehr als respektablen Beitrag – Geschichtsabriss und Kulturpanorama in einem, informativ und allzu aktuell in unseren Zeiten.