Wurde Amerika in der Antike entdeckt?

„Wurde Amerika in der Antike entdeckt?“ Der Name des Buches von Hans Giffhorn deutet bereits eine weitere jener längst zahlreichen Theorien zu präkolumbischen Kontakten zwischen alter und neuer Welt an, die letztlich seit Kolumbus‘ (Wieder)Entdeckung, vor allem aber seit dem 19. Jahrhundert blühen. Der Großteil besagter Theorien ist längst entweder widerlegt oder wies von Anfang an zu wenig konkrete Belege auf, als dass man sie widerlegen könnte. Anders bei Giffhorn: Bei ihm waren es ausnahmsweise nicht Ägypter, Phönizier oder gar die verlorenen zehn Stämme Israels, sondern iberische Kelten des zweiten Jahrhunderts vor Christus, womöglich gemeinsam mit den letzten Karthagern und Ureinwohnern Mallorcas, die bereits über tausend Jahre vor den Wikingern den Atlantik überquert haben sollen, um im Andengebiet die Zivilisation der Chachapoya zu begründen. Was wie eine weitere pseudowissenschaftliche These klingt, stellt sich tatsächlich als wohlfundierte Theorie heraus. Das sieht man nicht allein am Mann Hans Giffhorn, Professor für Kulturwissenschaften, oder dem angesehenen C. H. Beck-Verlag (der immerhin auch schon die weniger seriösen Bücher eines Harald Haarmann herausbrachte …), sondern schlichtweg am Inhalt:
Stück für Stück werden die Belege dargelegt, die für einen – und zwar nur diesen – Kontakt sprechen: Neben wirklich markanten und sogar in Details spezifischen Kulturparallelen (fast identische Häuser, Steinschleudern, Schädeltrepanationen etc.) etwa der Nachweis von Tuberkulose in zahlreichen Mumien der Chachapoya (eigentlich eine Alte-Welt-Krankheit, soweit bisher bekannt), eine keltisch erscheinende Messingaxt im brasilianischen Regenwald (tatsächlich von richtigen Wissenschaftlern untersucht und datiert), an die iberische Schrift erinnernde Felszeichnungen in Brasilien, ein Bericht über die Entdeckung eines Landes im Westen durch die Karthager bei Diodor und nicht zuletzt das auffällige Vorkommen hellhäutiger, dabei rot- oder braunhaariger Menschen in abgelegenen Populationen peruanischer Ureinwohner ohne Kontakt zu Europäern – und gleichsam DNA-Tests, die die Herkunft der entsprechenden Gene aus der alten Welt, mit hoher Wahrscheinlichkeit gar Nordspanien belegen.
Es ist nicht die Art Argumente, die man von Grenzwissenschaftlern gewohnt ist – nicht vordergründig spektakuläre Einzelfunde mit unklarem Fundkontext, nicht vage Parallelen, die genauso gut durch Zufall zu erklären wären. Gerade die Messingaxt macht diesen Unterschied deutlich – obwohl, wenn authentisch, ein allzu schlagkräftiger Beweis, verlässt sich Giffhorn nicht darauf, sondern argumentiert so weiter, als gäbe es sie nicht. Bei all seinen Beweismitteln wird nicht gegen, sondern in Zusammenarbeit mit entsprechenden Fachexperten der jeweiligen Wissenschaften gearbeitet; statt einschlägigem Wissenschaftler-Bashing vielmehr differenziert auf bestehende Probleme in den etablierten Theorien und Machtstrukturen hingewiesen. Der Stil ist dabei sachlich und systematisch, nicht sensationalistisch oder nicht stringent wie bei „unkonventionellen“ Theorien oft zu beobachten, immer bedacht auch auf Hinterfragung der eigenen Schlüsse und ihre Absicherung durch alle denkbaren Studien. (Es muss ein herber Schlag für alle Autoren der sogenannten „alternativen Archäologie“ sein, diese Erkenntnis, dass man derartige Theorien tatsächlich auch nach wissenschaftlichen Standards vorbringen kann.)
In der zweiten Hälfte des Buches wird ein hypothetisches Szenario entworfen, wie die Auswanderung der Kelten und Karthager abgelaufen sein könnte. Bei alledem bleibt Giffhorn, obgleich er viele Leser bereits überzeugt haben dürfte, noch immer so vorsichtig, von einer Theorie zu sprechen, auf der weitere Forschungen aufbauen können und sollten, nicht etwa von der längst bewiesenen Wahrheit.
Trotz allgemein kritischer Grundeinstellung (siehe meine anderen Rezensionen) vermochte ich weder mit gesundem Menschenverstand, noch mit Fachwissen oder einer Internetsuche nach Gegendarstellungen plausible Einwände finden, die die vorgebrachte Theorie, ihre Belege oder die Methode der Beweisführung entkräften würden. Die offenkundige Zusammenarbeit des Autors mit zahlreichen anerkannten Experten lässt auch die – niemals leichtfertig zu postulierende, aber immer in Betracht zu ziehende – Möglichkeit schlichter Lügen und Falschinformationen unwahrscheinlich erscheinen. Man kann im Endeffekt nur hoffen, dass in Zukunft endlich weitere, dann umfangreiche und offizielle Forschungen sich der Thematik annehmen. Denn „Wurde Amerika in der Antike entdeckt?“ ist eben kein Teil der Grenz- und Pseudowissenschaft, die das Thema präkolumbische Amerika-Kontakte seit langem für sich gepachtet haben, sondern schlichtweg Wissenschaft über eine unkonventionelle Theorie, der bis auf Weiteres nur die wohl gehegten Traditionen unseres Geschichtsbildes im Wege stehen.