Nachrichten aus Mittelerde

„Der Hobbit“ und „Der Herr der Ringe“ machten J. R. R. Tolkien zum Vater der modernen Fantasy-Literatur. Zu Lebzeiten veröffentlichte er nicht viel mehr als diese zwei Bücher – doch im Privaten schuf er einen gewaltigen Korpus an Texten, meist unvollendet, die die Entwicklung der phantastischen Welt Mittelerde über die Jahrtausende der vier Zeitalter hinweg illustrieren. Nach seinem Tod wurden Teile davon von seinem Sohn Christopher editiert und veröffentlicht – ein Ergebnis dieser Mühen ist die Textsammlung „Nachrichten aus Mittelerde“.
Eines vorweg: Wer einen stringenten Fantasy-Roman oder zumindest eine Geschichtensammlung erwartet, der sollte die Finger davon lassen. Obwohl zu weiten Teilen erzählend, hilft bei diesem Werk doch der Ansatz ungemein, es nicht vordergründig als Belletristik, sondern vielmehr als Studie über Mittelerde zu betrachten, nicht anders als man auch eine Sammlung der Originaltexte griechischer Mythen betrachten würde. Denn in der Tat hat Tolkien nicht nur vom Umfang und Inhalt her eine eigene Mythologie geschaffen – auch die Textsituation mit den zahlreichen unvollendeten, teils widersprüchlichen, aus verschiedenen Schaffensphasen bestehenden Überlieferungen sieht ganz genauso aus. So ist es auch kein Wunder, dass die Texte selbst nur einen Teil des Buches ausmachen, begleitet von umfangreichen Erläuterungen und Anmerkungen Christopher Tolkiens.
Geordnet sind die Texte nach der Chronologie Mittelerdes; es beginnt also mit dem Ersten Zeitalter. Hierbei wird eine gewisse Grundkenntnis der Geschichte dieses Zeitalters, etwa aus der Lektüre des „Silmarillions“, vorausgesetzt. Der erste Text nun ist der von „Tuor und seiner Ankunft in Gondolin“ – seiner Ankunft wohlgemerkt; die spektakuläre Zerstörung Gondolins, die in anderen Textfassungen darauf folgt, fehlt hier völlig (sie findet sich verkürzt im „Silmarillion“ und in voller Länge in den früher zu datierenden „Verschollenen Geschichten“). Diese Geschichte ist zwar handwerklich ohne Fehl (wenn man vom abrupten Schluss mittendrin absieht) und recht atmosphärisch, aber eher etwas langatmig und ohne wirkliche Spannung.
Als Herzstück des Buches indes kann man wohl den zweiten Text begreifen: „Die Geschichte der Kinder Húrins“ (rund 150 Seiten), die fast vollständige Fassung des Heldenepos über den Krieger Túrin. Es fehlen nur eine für die Handlung mittelmäßig wichtige Passage in der Mitte, zu der aber immerhin im Anhang noch, soweit vorhanden, einige Fragmente aus anderer Quelle dargeboten werden, sowie die Schilderung der „Schlacht der ungezählten Tränen“ recht am Anfang, die der Herausgeber mit der Begründung herausschnitt, dass sie im Silmarillion in nahezu gleicher Form zu finden ist (ich persönlich finde diese Streichung unnötig und schade). Der Text wurde später auch in einer „restaurierten“ Fassung ohne sichtbare Lücken unter dem Titel „Die Kinder Húrins“ veröffentlicht. Da aber auch die erhaltene Urfassung schon ziemlich ausgereift ist, dürfte der Unterschied zwischen beiden aber eher marginal sein mit dem Aspekt vielleicht, dass die restaurierte „Solofassung“ für durchschnittliche, nicht an literaturwissenschaftlichen bzw. textkritischen Aspekten interessierte Leser geeigneter sein dürfte. Für jene, die „Die Kinder Húrins“ bereits kennen, ist dieser Abschnitt in „Nachrichten aus Mittelerde“ freilich weniger interessant.
Weiter geht es mit Texten aus dem Zweiten Zeitalter: Zunächst eine wirklich hervorragend geschriebene Geschichte über den númenorischen Prinzen/König Aldarion, wenn auch ohne ausformuliertes Ende – was, zugegebenermaßen, auch schwer gewesen wäre, da die Handlung nahtlos Teil der allgemeinen Weltgeschichte ist, sodass eine Weiterführung einer Art Chronik gleichgekommen wäre. Die weitere Geschichte Númenors von Aldarion bis zu den letzten Königen erfährt man jedoch aus dem nachfolgenden Kommentar, der die dazu überlieferten Notizen Tolkiens wiedergibt, sowie dem nächsten Kapitel, einer chronikartigen Auflistung der númenorischen Könige und ihrer Regierungszeiten. Dann folgen Texte, die sich mit der Vergangenheit von Galadriel und Celeborn beschäftigen – mittelmäßig interessant. Das Dritte Zeitalter schließlich bietet vor allem einigermaßen vollständige Berichte über mehrere historische Schlachten (Isildur Tod auf den Schwertelfeldern, die Entstehung des Reiches Rohans infolge eines Bündnisses mit Gondor gegen die Ostlinge sowie die zur Zeit des Herrn der Ringe angesiedelten Schlachten an den Furten des Isen) sowie Hintergründe zu den Begebenheiten des Ringkrieges (so die Reise der Schwarzen Reiter und Gandalfs Hintergedanken zu dem Unternehmen im „Hobbit“). Der letzte Abschnitt schließlich besteht nur aus Sachtexten, betreffend das wenig bekannte Volk der Drúedain, die Istari (Zauberer) und die Palantiri. Während der Text über die Istari leider eher wenig Neues bietet, sind die anderen beiden durchaus interessant.
Zweifellos ist „Nachrichten aus Mittelerde“ nur etwas für eingefleischte Fans des tolkien’schen Universums – für die aber bedeutet es nicht nur massig neue Erkenntnisse, sondern auch ein neuerliches Abtauchen in die atmosphärische Welt dieser einzigartigen Schöpfung, wie man sie sonst in der Fantasy kaum oder gar nicht findet. Man bekommt Einblicke in die Entwicklung der Ideen und Konzepte während Tolkiens jahrzehntelanger Schaffenszeit und erfährt Hintergründe, die die Handlungen aus Büchern und Filmen in neuem Licht erscheinen lassen. Nicht zuletzt gibt es eine fast vollwertige Fassung der Túrin-Geschichte, die für sich genommen schon eine beeindruckende und als Unterhaltungsliteratur lesbare Novelle ist. Überhaupt ist das gesamte Werk durchgängig flüssig lesbar und auch unterhaltsam – anders als etwa der gewaltige literaturwissenschaftliche bis linguistische Apparat der „Verschollenen Geschichten“‚.
Wer anderes erwartet, mag in „Nachrichten aus Mittelerde“ eine bloße Resteverwertung aus Geldgier sehen – für jene indes, die sich auf das Universum einlassen wollen, bedeutet das Buch eine hervorragende Edition zahlreicher interessanter Texte, die man ungern missen möchte.

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