Die Wahrheit über die griechischen Mythen: Palaiphatos‘ „Unglaubliche Geschichten“

Wo mögen wohl all jene mythischen Geschichten herkommen, die die alten Griechen sich erzählten, vom Minotauros bis zum goldenen Vlies? Tatsächlich fragte man sich das auch schon in der Antike – und ein Mann namens Palaiphatos machte es sich zur Aufgabe, Antworten darauf zu finden. Leider ist von seinen „Unglaublichen Geschichten“, in denen er allerlei klassische Mythen dekonstruiert, nur ein Ausschnitt erhalten geblieben, doch den immerhin hat Reclam nun in einer zweisprachigen Ausgabe für 5€ neu herausgebracht. 45 bekannte oder weniger bekannte Geschichten nimmt sich Palaiphatos darin vor mit dem Ziel, nur allzu irdische Erklärungen für ihre Entstehung zu finden. Europa wurde etwa nicht von einem Stier entführt, sondern von einem Mann namens Tauros (dt. „Stier“) – genauso hieß übrigens auch der nur allzu menschliche Vater des Minotauros. Bei der vielköpfigen Hydra handelte es sich vielmehr um die Verteidigungsmannschaft der gleichnamigen Stadt, bei denen für jeden Bogenschützen, der von der Mauer geschossen wurde, zwei andere an seine Stelle traten. Und Niobe wurde nicht zu Stein, sondern stellte vielmehr eine steinerne Statue von sich an das Grab ihrer Kinder, die später mit ihr verwechselt wurde. Hierbei fasst Palaiphatos immer zunächst den Mythos zusammen und erklärt, weshalb dieser unglaubwürdig sei (meist ziemlich salopp, aber auch nach modernen Kenntnissen einigermaßen solide); anschließend folgt die alternative Ursprungsgeschichte. Zugegeben, manche dieser Erklärungen wirken etwas an den Haaren herbeigezogen – umso mehr, da Palaiphatos sie nicht als mögliche Hypothesen, sondern als unbezweifelbare Tatsachen präsentiert. Oft geschieht die Erklärung auf Basis von missverstandenen Namen (siehe Tauros) oder Metaphern, die beim Weitererzählen in einen falschen Zusammenhang gebracht wurden. Empirisch belegt indes sind die Erklärungen nicht. Doch sehr wohl mögen sie einen neuen Blickwinkel darauf öffnen, wie es denn gewesen sein könnte. So oder so ähnlich mag in der Tat der Ursprung manches bekannten Mythos ausgesehen haben, bevor er durch mündliche Tradition immer mehr ausgeschmückt wurde – egal, ob nun die spezifischen Thesen des Palaiphatos der Wahrheit entsprechen oder nicht.  Eine rein naturalistische Weltauffassung vertritt der Autor dabei nicht – die Götter etwa werden, anstatt auch sie wegzuerklären, dezent ausgelassen und als wirklich vorausgesetzt. Wenig Sinn indes ergeben meines Erachtens die „Späteren Zusätze“ zu den unglaublichen Geschichten, die im Anschluss an den Hauptteil präsentiert werden – hier nämlich fehlt die jeweilige Erklärung; der Autor erzählt bloß die Mythen nach.
Die Reclam-Ausgabe, obwohl wenig umfangreich, bietet über den Primärtext hinaus noch eine gewisse Einleitung sowie – für den, den es interessiert – Ausschnitte aus den originalen mythischen Erzählungen, auf die sich Palaiphatos mutmaßlich bezogen hat (v.a. die „Bibliotheke“ des Pseudo-Apollodor). Das Büchlein von 149 Seiten (von denen rund die Hälfte die griechische Fassung ist) ist letztlich natürlich nicht der Weisheit letzter Schluss – aber sehr wohl interessant zu lesen und anregend, um sich selbst Gedanken zu der Thematik zu machen. Da billig und schnell durchgelesen, kann man mit dem Kauf eigentlich wenig falsch machen.

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