Als die Götter Mensch waren

„Als die Götter Mensch waren“ – „Inuma Ilu Awilu“ – so beginnt das altbabylonische Atrahasis-Epos, die älteste bekannte Sintfluterzählung und einer der wichtigsten Texte der altorientalischen Literatur. Ebendiese wird einem im vorliegenden Buch nahegebracht anhand etlicher übersetzter Originaltexte, welche hauptsächlich der Mythologie zuzurechnen sind. Nichts für Otto Normalverbraucher, wohl aber für angehende Altorientalisten und jeden an den mesopotamischen Kulturen interessierten Laien. Wer zuvor höchstens etwas gehört hatte von Atrahasis oder Inannas Gang zur Unterwelt, der kann hier den genauen Wortlaut nachlesen und so erfahren, was wirklich drinsteht – praktisch, zumal die Texte von gewissen Autoren, die das Populärverständnis prägen – hüstel Zecharia Sitchin hüstel – recht eigensinnig interpretiert werden. Folgende Texte sind im vorliegenden Werk enthalten:

  • das titelgebende Atrahasis-Epos, nach Gilgamesch und Enuma Elish wohl der wichtigste Text der mesopotamischen Mythologie. Erzählt wird die Festlegung der Weltordnung in grauer Vorzeit und wie damals die Götter noch selbst alle Arbeiten verrichten mussten, bis sie gegen ihre Herrscher rebellierten – und der weise Enki auf die Idee kam, stattdessen den Menschen als Rasse niederer Arbeiter zu erschaffen. Doch diese vermehren sich alsbald zu stark, sodass Götterkönig Enlil sie durch einige Plagen zu dezimieren versucht, als letztes die berühmte Sintflut, die nur ein Mann dank Eingreifen Enkis überlebt. Das Vorbild für die biblische Sintflutgeschichte.
  • Der Zahnwurm – eine kurze Geschichte über einen Zahnfleisch fressenden Wurm, die als Beschwörung gegen Zahnschmerzen rezitiert wurde.
  • Einen Bittbrief an einen Gott, exemplarisch für die damalige Betkultur.
  • Ein kurzes Wiegenlied zum Beruhigen schreiender Babys.
  • Ein satirisch-philosophischer Dialog zwischen einem Herrn und seinem Diener, der die Ambivalenz aller klassischen Werte aufzeigt.
  • Die Rache des armen Mannes aus Nippur. Ein Märchen über einen armen Mann, der sich an einem arroganten Beamten rächt – könnte genauso gut jeder anderen Kultur und Zeit entstammen, hier aber natürlich im alten Sumer angesiedelt.
  • Das Märchen von Etana. Eine recht bekannte Geschichte, der leider das Ende fehlt – gewissermaßen eine Mischung aus Tierfabel und Heldenreise.
  • Ischtars Abstieg in die Welt der Toten, auch bekannt als „Inannas Gang zur Unterwelt“, nach den großen Epen wohl der bekannteste Mythos der mesopotamischen Kultur. Die Göttin Inanna/Ischtar will die Unterwelt erobern, wird jedoch von ihrer böswilligen Schwester Ereshkigal dort festgehalten. Im Anhang wird zudem die religiöse Bedeutung des Mythos für den mesopotamischen Ahnenkult erläutert – eine interessante neue Dimension der Geschichte.
  • Eine ehrerbietige Hymne an e.g. Ischtar.
  • Der Gesang der Hohepriesterin Enheduana, die Ischtar um die Errettung vor dem drohenden Untergang anfleht.
  • Bericht über den Krieg König Utuhengals gegen die Gutäer, in dem jener sich selbst feiert.
  • Gilgamesch und Akka. Konfrontation zwischen den zwei genannten Königen, die trotz Thematisierung Gilgameschs keinen Eingang ins gleichnamige Epos fand.
  • Geburt und Aufstieg des Königs Sargon – Parallelen zur biblischen Moses-Geschichte sind nicht beabsichtigt.
  • Ein Dialog über die Gleichgültigkeit der Götter – eine Formulierung des altbekannten Theodizee-Problems, hier ohne wirkliche Pointe.
  • Aus dem Leben eines Schülers – Satire, in der aus einem bemühten, aber nicht gewürdigten jungen Mann durch Lehrerbestechung ein Musterschüler wird.

Unterhaltsam sind die Texte erwartungsgemäß kaum, was vor allem an der weitgehend recht simplen Sprache voller Pathos und den vielen Lücken liegt – Die Textsituation ist schließlich problematisch, wo doch viele Texte nur in beschädigter Form vorliegen und sich nur näherungsweise oder unvollständig übersetzen lassen. Nichtsdestotrotz kann man von einer guten Arbeit der Autoren sprechen, die verständliche Texte geschaffen und ihre eigenen Hinzufügungen zum besseren Textverständnis kenntlich gemacht haben.
Zweifellos lässt sich einiges aus dieser vielseitigen Zusammenstellung von Texten lernen. Mit Atrahasis und Ischtar in der Unterwelt hat man zwei der wichtigsten Klassiker des Kulturkreises vorliegen. Die beiden Dialoge indes sind heute so aktuell wie eh und je, behandeln sie doch die immerwährenden Fragen der Menschheit. Auf jeden Fall aber werden einem die Kulturen des alten Mesopotamiens näher gebracht, ob nun Politik, Religion oder alltägliche Probleme der Menschen. Wenn auch der Stil gewöhnungsbedürftig ist, so lässt sich das Buch doch flüssig in kurzer Zeit durchlesen, wonach man um einiges Wissen reicher ist. Ob der Preis von 24,95€ für nur 128 Seiten angemessen ist, darüber lässt sich streiten – doch gibt es in deutscher Sprache kaum eine Alternative zu dem Thema.

Schreibe einen Kommentar