Nasreddin Hodscha – 666 wahre Geschichten

Nasreddin Hodscha. Im Westen, wenn überhaupt bekannt, charakterisiert man ihn bisweilen als „orientalischen Eulenspiegel“, die türkische Überlieferung hingegen beansprucht ihn als eine Art unveräußerlichen Nationalhelden. Unrecht haben beide – ist der Hodscha doch nicht nur weit älter, sondern auch weiter verbreitet und vor allem viel zu vielfältig, als dass man ihn mit solch engen Begrifflichkeiten fassen könnte. Der gesamte islamische Kulturraum – und längst nicht mehr nur dieser – kennt ihn als Protagonisten unzähliger witzhafter Anekdoten, die einerseits bis ins Mittelalter zurückgehen, gleichsam aber sich jeder neuen Zeit anpassen und ständig von neuem entstehen. Die ältesten Geschichten handeln dabei gar nicht einmal von ihm selbst, heißt der ab dem 7. Jahrhundert bezeugte arabische Tölpel hier doch noch Dschuha – nur eine von vielen ursprünglich eigenständigen Überlieferungen, die der wachsende Mythos Hodscha nach und nach an sich zog. Während der Hodscha in den Schwänken des 19. und 20. Jahrhunderts sogar als eine Art Weisheitslehrer auftritt, ja auf jeden Fall immer wieder durch bemerkenswerte Bauernschläue auffällt, ist Dschuha noch ein ganz anderes Kaliber: Nicht nur in einem Maße tölpelhaft, dass es ins Absurde geht, sondern, mehr Regel als Ausnahme, gar grotesk bis pervers in seinen Umtrieben.
Das Buch „666 wahre Geschichten“, herausgegeben von dem renommierten Orientalisten Ulrich Marzolph, versucht schließlich, diese ganze über tausendjährige Tradition zu umreißen. In einer informativen Einleitung führt jener in die eben genannten historischen Hintergründe ein, was die Vielfalt der Überlieferungen erahnen lässt. Der Rest des Buche gehört den Hodscha-Anekdoten selbst – tatsächlich nicht mehr oder weniger als ganze 666 Stück, wie schon der Titel verspricht. Enttäuscht wird auf jeden Fall, wer nur erbauliche Anekdoten und anständige Lebensweisheiten erwartet – denn der Hodscha entspricht so gar nicht dem Bild, das man sich gemeinhin von „klassischer Literatur“ macht, und schon gar nicht der mit Mittelalter und Islam assoziierten Prüderie. „Volkstümlich“ sind die Geschichten vom Hodscha, was oft genug nichts anderes meint als vulgär. Gerade die älteren Dschuha-Anekdoten nehmen kein Blatt vor den Mund und zelebrieren geradezu sexuelle und fäkale Aspekte. Bei der Redewendung „Nasreddin und sein Esel“ mag man ausgehend von der modernen Tradition noch an die witzige Geschichte denken, in der der Protagonist falsch herum auf seinem Reittier sitzt – nun ja, nach der Lektüre des Buches dürfte man vor allem andere Assoziationen damit verbinden. Politische Korrektheit war ein Fremdwort in der vor allem älteren Hodscha-Tradition, wo geschmacklose Sprüche angesichts des Todes von Familienmitgliedern noch das Harmloseste sind. Der Hodscha macht weder Halt vor Herrschern wie dem mächtigen Timur, der in diversen Anekdoten auftaucht, noch vor religiöser Pietät, wenn er Minarette als „Pimmel der Stadt“ bezeichnet und den Gottesdienst in vielfältiger Weise stört. Wenig schonungsloser als der Inhalt ist die vorliegende Übersetzung, die ohne Skrupel den umgangssprachlichen bis vulgären Charakter des Originals wiedergibt.
Für den wenig verklemmten Leser mögen gerade diese drastischen Episoden ihren Reiz haben – doch natürlich kommt auch der „anständige“ Hodscha der überwiegend jüngeren Tradition nicht zu kurz. Dort tritt er mal als Tölpel, mal als Weiser mit breiter Schülerschaft auf, dessen Wege und Worte mal herausragend dumm, mal allzu schlau sind – auf jeden Fall aber unkonventionell.
So skizziert „666 wahre Geschichten“ letztlich die faszinierende Entwicklung einer volkstümlichen Gestalt über mehr als tausend Jahre und zahlreicher Länder hinweg. Positiv hervorzuheben ist nicht zuletzt die Kombination aus populärer Lesbarkeit und fachlicher Qualität – die Einleitung beschreibt präzise, aber nicht zu trocken die Rahmenbedingungen, während der Anhang die genauen Quellen sämtlicher Anekdoten auflistet, sodass der Hauptteil dem ursprünglichen Zweck gewidmet bleibt: Kuriose Unterhaltung, zwar kulturhistorisch interessant, doch auch heute noch oft lustig bis verstörend.