Kinder der Sonne: Die Narten

Bildergebnis für kinder der sonne die nartenWir kennen viele große Heldenepen der alten Völker: Da wären das Nibelungenlied, Beowulf natürlich, Ilias und Odyssee, nicht zu vergessen Gilgamesch. Weniger bekannt ist indes das Epos um die Narten, jenes Volk übermenschlicher Helden, das von den Osseten (einem kleinen Volk im Kaukasus) als ihr Vorgänger betrachtet wurde. Die Wurzeln dieser Mythen reichen zweifellos bis in die Zeit der Skythen zurück und wurden über deren Nachfahren, vor allem die Alanen und Osseten, jahrhundertelang mündlich tradiert, bis Forscher im 20. Jahrhundert endlich den Entschluss fassten, den Korpus der Nartensagen niederzuschreiben. Aus dieser Fassung schuf der orthodoxe Priester und Autor André Sikojev eine deutsche Übersetzung – und damit wären wir bei dem zu besprechenden Buch: „Kinder der Sonne: Die Narten“.
Das Epos besteht tatsächlich aus diversen Einzelepisoden, die aber durch die auftretenden Akteure verknüpft sind und auch lange Zeit weitgehend zusammenhängend tradiert wurden. Es beginnt mit den Brüdern Achsar und Achsartag, denen in den nächsten Generationen Helden wie Urismag, Chamiz, Sostan und Batrads folgen. All diese müssen sich mit bösartigen Riesen, mehr noch aber mit den Intrigen und sozialen Verwicklungen ihres eigenen Volkes herumschlagen. Die Übergänge zwischen Menschen und göttlichen Wesen sind bei diesen sagenhaften Helden oft fließend – denke man etwa an die (fast) unverwundbaren Helden Sostan und Batrads, deren Körper im Feuer wie Stahl gehärtet wurden. Obwohl unter christlichem Einfluss der Glaube an einen höchsten Gott Eingang in die Kultur der Osseten fand, konnte er sich letztlich nie endgültig gegen die Konkurrenz älterer Gottheiten durchsetzen und bleibt in den Geschichten letztlich eine Kraft nebst anderen.
Zwar gibt es eine Reihe von Logiklöchern und wiederholt auftauchende Motive, doch ist dies bei solchen „natürlich gewachsenen“ Mythen kein wirkliches Wunder. Eine faszinierende Dimension eröffnen die Nartengeschichten auch für die vergleichende Mythologie – gibt es doch einige Stellen, die bemerkenswerte Ähnlichkeit zu Mythen anderer Kulturen aufweisen: der Zyklop mit seiner Schafherde in der Höhle ganz wie in der Odyssee, die Steingeburt des Sostan (vgl. hethitische und phrygische Traditionen) und eine Beschreibung der Unterwelt, die (zufällig oder nicht?) an die zwölfte Tafel des Gilgamesch-Epos (bzw. das sumerische Äquivalent) erinnert. Kulturhistorisches Hintergrundwissen ist überhaupt nicht vonnöten – einige grundlegende Informationen gibt es schließlich noch im Nachwort, was informativ, aber für das Verständnis der Geschichten nicht unbedingt erforderlich ist.
Ganz ab von dieser tiefgehenden wissenschaftlichen Betrachtung darf aber eines niemals aus den Augen verloren werden: Stilistisch ist Autor und Übersetzer mit dieser bisher einzigen deutschen Edition des Nartenepos ein Werk gelungen, das zwar in seiner Art eindeutig ein alter Mythostext, aber doch genauso flüssig und unterhaltsam zu lesen ist wie zeitgenössische Unterhaltungsliteratur – ganz anders als man es von anderen solchen Epen und ihren Übersetzungen gewohnt ist. Mehr erinnert es im Ausdruck an altbekannte Märchenerzählungen – zwar nicht persönlich und szenisch, sondern berichtend in der Perspektive, doch alles andere als zäh und auch heute noch gut lesbar. Nun muss natürlich noch bemerkt werden, dass unklar bleibt, wie textnah diese Übersetzung (oder vielmehr Nacherzählung?) gegenüber der Ursprungsfassung ist, doch dürfte auch jene daher, dass sie erst spät verschriftlicht wurde, schon von recht moderner Stilistik sein (zumal der Sagenkorpus im Gegensatz zu anderen Epen nie in Versform tradiert wurde).
Im Endeffekt ist das Buch „Kinder der Sonne“ absolut zu empfehlen. Bisher einzigartig auf dem deutschen Markt, bietet es einen unterhaltsamen und gut lesbaren Einblick in die wichtigsten Sagenkreise einer hierzulande kaum bekannten, aber doch faszinierenden Mythologie.

Schreibe einen Kommentar