Das Rätsel der Donauzivilisation

Die ersten Hochkulturen, das waren die Ägypter, Sumerer, vielleicht noch Elamer (wobei die allzu gerne vergessen werden). Doch eine wird stets unterschlagen – meint zumindest der Sprachforscher Harald Haarmann. Die Rede ist von der von ihm postulierten „Donauzivilisation“. Bereits im Neolithikum ab 6.000 v. Chr. soll auf dem Balkan eine beeindruckend hoch entwickelte Kultur existiert haben, die bereits lange vor den Sumerern die Verarbeitung von Metall, die Töpferscheibe und sogar die Schrift gekannt habe.
Freilich – Haarmann Thesen werden von der Fachwelt weitgehend zurückgewiesen, obgleich man ihn immerhin nicht in die Reihe der Pseudowissenschaftler und Geschichtsrevisionisten zählt. Was also ist zu halten von jener ominösen vorgeschichtlichen Kultur des Balkans?
Es handelt sich jedenfalls nicht um eine jener nie entdeckten, untergegangenen Zivilisation in Tradition von Atlantis und Lemuria, sondern vielmehr um einen Oberbegriff für mehrere archäologisch nachgewiesene Regionalkulturen (darunter etwa Winca, Karanovo und Cucuteni), die der Ur- und Frühgeschichte eigentlich wohlbekannt sind. Das Buch „Das Rätsel der Donauzivilisation – Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas“ gibt einen interessanten, weitgehend allgemeinverständlichen Einblick in diese. Präzise erläutert Haarmann etwa Architektur und Kleinkunst, soweit sie durch Ausgrabungen belegt sind. Auch zeigt der Sprachforscher etliche Wörter des Altgriechischen auf, manche von denen nur allzu bekannt, die sich als ein vorgriechisches (d.h. nicht indogermanisches) Erbe direkt von dieser „alteuropäischen“ Kultur herleiten. So weit, so interessant, so wenig revolutionär.
Worum also geht es bei den spezifisch neuen Aspekten Haarmanns und wie sind diese zu bewerten? Da wäre zum einen, ganz maßgeblich, die Schrift. Der wissenschaftliche Konsens geht dahin, die sogenannten Winca-Zeichen, die ganze zwei Jahrtausende vor der Keilschrift auftraten, nicht als vollwertige Schrift zu klassifizieren. Darüber kann man wohl streiten. Ich wage diesbezüglich zu behaupten, dass es sich um eine eher sinnlose Diskussion handelt, da der Übergang von primitiven Symbolsystemen zur richtigen Schrift wohl als fließend anzusehen ist – auch mit den ersten Keilschriftzeichen konnte man noch keine richtigen Texte schreiben.
Und dann wäre da noch der Aspekt der Kultur mit besonderem Fokus auf der Religion. Hier tritt der ansonsten relativ empirische Haarmann auf ganzer Linie aufs Glatteis. Aus rudimentären Fundstücken will er auf allerlei ziemlich explizite kultische und religiöse Bräuche und Vorstellungen schließen, die allesamt durchaus denkbar sind, aber schwerlich eindeutig aus den Funden hervorgehen. Auch seine Annahmen einer weitgehend egalitären und friedlichen Gesellschaft mit Gleichberechtigung der Geschlechter bis hin zu einer Sonderstellung der Frauen scheinen eher Wunschdenken denn archäologisch nachweisbare Fakten zu repräentieren – hier scheint deutlich die Tradition von Marija Gimbutas und anderen Vertretern der populärwissenschaftlich oft so genannten „Matriarchatstheorien“ durch (ein nicht ganz treffender Begriff, aber doch der damit am meisten assoziierte). Auffällig ist die allzu positive Darstellung der Donauzivilisation, was fast an die Konstruktion einer Utopie in ferner Vergangenheit denken lässt.
Es bleibt zudem ein weiterer Kritikpunkt: Obwohl Haarmann tatsächlich eine Minderheitsmeinung vertritt, präsentiert er alles so, als handle es sich dabei ganz um den allgemein etablierten Konsens, wie er unbestreitbar aus den neuesten Erkenntnissen hervorgegangen sei. Das erschwert für all jene, die das Buch ohne zumindest oberflächliches Vorwissen lesen, leider das Aufkommen quellenkritischer Aufmerksamkeit – stattdessen wird der laienhafte Leser glauben, Haarmann spräche repräsentativ für die ganze Zunft der Wissenschaft. Das gilt auch etwa für die These des Schwarzmeer-Durchbruchs als Ursprung sämtlicher Sintflut-Mythen, was gleichsam umstritten ist.
Im Fazit also macht „Das Rätsel der Donauzivilisation“ eine ziemlich mittelmäßige Figur: Ja, definitiv ist das Buch informativ, bietet es doch eine Einführung in eine höchst interessante, doch wenig bekannte alte Kultur. Das aber kann leider nur unter der Voraussetzung quellenkritischer Kompetenzen beim Leser geleistet werden, denn zu einem weiten Teil besteht das Werk aus bloßen eher unbelegten Spekulationen, die als wissenschaftlich etablierte Tatsachen präsentiert werden. Für einen Kenner der Ur- und Frühgeschichte, vor allem nach Lektüre dieser oder einer vergleichbaren Rezension, dürfte das Buch sehr wohl von Wert sein – bei Leichtgläubigen indes könnte es mehr Fehlvorstellungen als Bildung vermitteln.

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