Theodor Storms Neues Gespensterbuch

Die Sammlung volkstümlicher Geschichten von August Apel und Friedrich Laun, das („alte“) Gespensterbuch, ist legendär – nicht zuletzt inspirierte es Mary Shelley zu ihrem Frankenstein und John Polidori zu seiner bis heute bekannten Vampir-Geschichte. Das fand auch Theodor Storm, bekannt als Autor des „Schimmelreiters“ und anderer Novellen, selbst zeitlebens höchst interessiert an Legenden und Geistergeschichten. So plante er, ein „Neues Gespensterbuch“ zusammenzustellen. Zahlreiche Berichte über Geister und seltsame Traumerscheinungen wurden gesammelt – die Mehrheit davon erstmalig nach mündlicher Überlieferung schriftlich aufgezeichnet -, sorgsam geordnet, zum Teil überarbeitet … und niemals veröffentlicht. Erst Jahrzehnte nach Storms Tod fand man durch Zufall das unveröffentlichte Manuskript in seiner Schublade und konnte es, nunmehr aufwendig editiert, veröffentlichen – zu unserem Glück.
Zugegeben, der Stil ist gewöhnungsbedürftig, weil sehr altmodisch – zudem wurden zahlreiche heute als solche geltende Fehler nicht dem aktuellen Zeitgeist angepasst, was zum Teil unangenehm auffällt. In der Tat ist hohe Konzentration vonnöten, den sperrigen Sätzen ihren unheimlichen Inhalt zu entlocken, mit Überfliegen ist nicht. Verständlich auch, dass sich diese Sammlung kurzer Texte nicht flüssig in einem Stück lesen lässt, wie es ja auch bei Kurzgeschichtensammlungen der Fall ist. Ebendiese Texte indes sind letztlich nicht sonderlich unheimlich, nach heutigen Maßstäben gemessen, was wohl zum einen an ihrem nicht immer so spektakulären Inhalt, mehr noch aber an dem trockenen, rein berichtenden Stil liegt. Soweit zur Kritik.
Nimmt man all dies jedoch in Kauf und das Buch als das, was es ist, nämlich „Beiträge zur Geschichte des Spuks“ (so der ursprüngliche Untertitel), also kein Unterhaltungsmedium, sondern die nüchterne Zusammenstellung verschiedener Ausprägungen eines scheinbar universellen Phänomens, so lässt sich dem „Neuen Gespensterbuch“ doch einiges abgewinnen. Man gewinnt zwar kein eigenes Grauen, wohl aber einen Überblick über den europäischen Gespensterglauben (bzw. die historischen Fälle von Spuk, wenn man es denn ernster nimmt). Da sind die Gespenster von Verstorbenen, die auf ihr schreckliches Schicksal aufmerksam machen, mysteriöse Träume und Erscheinungen, die den Tod von Menschen voraussagen, und auch lautstarke Poltergeistfälle ohne nachvollziehbare Ursache. Die verschiedenen Berichte stammen aus verschiedensten Zeiten und Regionen, von Skandinavien bis Rom und von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, wenn auch überwiegend aus dem Norddeutschland des 18. Jahrhunderts. Viele der neueren Berichte, so Storm, seien von „glaubwürdigen Augenzeugen“ berichtet, manchmal tritt gar der jeweilige Autor selbst als Zeuge auf.
Ist man an der Tradition des Gespensterglaubens interessiert und wünscht sich eine Vielzahl überlieferter Fälle zu vergegenwärtigen, so ist Theodor Storms Neues Gespensterbuch genau das richtige. All jenen, die aber einzig und allein Schauer und Horror suchen, den seien eher Sammlungen moderner Sagen (wie etwa “Slenderman und Smile Dog: Creepypasta und Großstadtlegenden” von Petra Cnyrim) oder rein fiktionale Erzählungen ans Herz gelegt.

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