Ein Buch über das Thema Kulturverfall, dessen Name zu lang ist, ihn hier in Gänze zu nennen


Man ahnt nichts Böses, wenn man das Buch mit dem höchst wissenschaftlich klingenden Namen „Deutsche Geschichte und Ethik: Teil I. Der Kosmos der Geschichte 2. Nieder- und Untergänge“ von Hans Graeve kauft und aufschlägt. Der Klappentext verspricht „die erste bündige Gesamtdarstellung und schlüssige Deutung der Gründe des Scheiterns von Kulturen wie den Maya, Sumerern (Uruk, Lagasch, Ur), der Osterinsel, den Minoern, Mykenern, Hethitern, Teotihuacán, den Khmer und Alba Longa“. Tatsächlich ein interessantes Thema, jene Frage, weshalb so viele Hochkulturen so plötzlich verschwanden. Doch leider wird man beim Lesen schon schnell eines Besseren belehrt:
Es beginnt mit einer sehr umfangreichen „Vorbemerkung und Einführung“, in der sich der Autor zunächst einmal selbst feiert. So stellt er sein vorheriges Buch vor, in welchem er sich mit dem Thema Kulturblüten befasste, und erörtert allerlei Rezensionen zu ebendiesem. Dabei stellt er ganz bescheiden fest, dass der gesamte Wissenschaftsbetrieb ihn aus Gründen der Verblendung – schließlich stamme er selbst nicht aus dieser Kaste – ablehne, ohne auch nur seine tatsächlichen Thesen und Argumente zu untersuchen. Über jene erfährt man freilich auch von ihm noch nichts im Vorwort; es bleibt auf der unkonkreten Meta-Ebene. Hier schon beginnt der Leser eine gewisse Selbstverliebtheit des Autors zu vermuten. Umso tragischer sei diese Ablehnung und Inkompetenz der etablierten Wissenschaftler, wo doch sein „Nachweis der Existenz universaler Gehalte der Geschichte“ eine „größere Sensation [sei] als die Dingfestmachung des letzten Elementarteilchens, der experimentelle Nachweis des Higgs-Boson, oder auch als die Entdeckung von Spuren einstigen Lebens auf dem Mars, wenn es ein solches je gegeben haben sollte, mag die breitere Öffentlichkeit dies auch völlig anders sehen“. Dies wird im Folgenden weiter ausgeführt: „Welche gedankliche Revolution die Theorie der universalen ethischen Prozesse bedeutet […] zeigen die Verständnislosigkeit der gelehrten Welt und ihr fast schon demonstratives Desinteresse an dem grundsätzlichen universahistorischen Zusammenhang, den wir kennen“; auch sei das Buch „zusammen mit dem Vorgängerband der feste Kern einer fundierten Universalgeschichte, die auf der geistigen Einheit der Menschheit gründet“. Die eben genannte vermutete Selbstverliebtheit des Autors wandelt sich spätestens hier in die Gewissheit von absolutem Narzissmus, gar Hybris. Doch freilich könnte man sich mit einem Autor, dessen einziger Fehler ein großes Ego ist, noch anfreunden, bin ich doch selbst ein begeisterter Leser von H. P. Lovecraft, der sich zeitlebens für etwas Besseres hielt als andere Menschen. Doch beginnen wir nun mit der Erörterung der tatsächlichen Theorien des Buches.
Zuerst wird der Untergang der Maya samt den gängigen Theorien dafür erläutert. Diese klingen zunächst in ihrer Gesamtheit recht einleuchtend, doch haben all diese Wissenschaftler ihre Rechnung nicht mit dem prophetischen Genie Hans Graeve gemacht: All dies nämlich, so weiß jener, sei keine hinreichende Erklärung für den Untergang der Maya. Punkt. Es folgt das Beispiel der Osterinsel, auch hier eine einstige Hochkultur, die doch bei ihrer Entdeckung durch Europäer zu einem erstaunlich primitiven Volk degeneriert war. Graeve weiß es zu erklären: Wie schon bei den Maya können prinzipiell keine klimatischen, ökologischen oder sonst wie wissenschaftlich feststellbaren Gründe den Niedergang bewirkt haben. Vielmehr seien es, wie bei allen anderen Fällen von Kulturverfall auch, „moralische“ Gründe. Alles zuvor Genannte seien nämlich stets nur Symptome eines sittlichen Verfalls in Form einer Revision der bisher bestehenden sozialen Verhältnisse. Es wird klar, dass die Ansicht Graeves eine Ideologie ist, und zwar eine, die ein radikal konservatives Weltbild propagiert. Stets nämlich sei es Grund für den Niedergang einer Kultur, dass althergebrachte Religion und Herrschaftsstrukturen in Frage gestellt werden, daraus resultieren alle anderen Probleme wie etwa innere Unruhen und die mangelnde Verteidigungsfähigkeit gegen äußere Feinde. Lange Zeit wird kaum klar, was genau nun mit dem großartigen Ethos, der jeweils verfällt, gemeint ist; dies erschließt sich dem Leser nur nach und nach. Wieder und wieder wird dieser etwa charakterisiert durch Verzicht und Anstrengung, betont vor allem in Bezug auf selbstloses Engagement für das Gemeinwohl. In Bezug auf die Weltanschauung des Autors lässt sich dies, zynisch gesprochen, nur auf zwei Arten interpretieren: konservatives Christentum oder Faschismus. Vermutlich, so denke ich, dürfte es eine Mischung aus beidem sein, dafür spricht Einiges. Hier dürfte, wie man es schon sinnvollerweise in der Schule gelernt hat, eine sprachliche Analyse zielführend sein: Zweifellos ist der Stil wissenschaftlich, ja akademisch, doch gibt es immer wieder Elemente, die unangenehm hervorstechen. Da wäre etwa der Gebrauch der Bezeichnung „Barbaren“, wenn auch nur in Abgrenzung weniger entwickelter Nachbarvölker zu der aktuell niedergehenden Hochkultur. Wesentlich bezeichnender ist die wiederkehrende Verwendung des Wortes „Entartung“, gern auch als Verb verwendet, um die negativen Verfallserscheinungen der betrachteten Kulturen zu charakterisieren. Dass dieser Begriff, unabhängig von der sachlichen Angebrachtheit in einem bestimmten Kontext, stark ideologisch vorbelastet ist, dürfte zur Allgemeinbildung zählen. Schwerlich kann man diesen offensichtlichen Gebrauch der Lingua Tertii Imperii, der Sprache des Dritten Reiches, als unbewusste Fahrlässigkeit sehen, bedient sich der Autor doch ansonsten einer Sprache auf hohem Niveau.
Andererseits scheinen auch an anderer Stelle inmitten des so großartig recherchierten Fachwissens eindeutige Fehler durch. Während mir bei den meisten Kulturen die nötigen Kenntnisse fehlen, diese zu erkennen, sind sie mir in Bezug auf die Kulturen des alten Mesopotamiens offensichtlich: Es wird vom „später mythisch verklärte[n] Gilgamesch“ gesprochen – mir indes ist nicht bewusst, dass es jemals wirkliche Belege für einen historischen Gilgamesch gab, welcher hätte mythisch verklärt werden können, ist dieser doch nach aktueller Wissenschaftsmeinung eher eine rein mythische Gestalt. Auch wird vom „Heiligtum der Eanna, der Stadtgöttin Uruks“ geschrieben, unwissend, dass Eanna nicht der Name irgendeiner Göttin, sondern des Heiligtums selbst war (in dem übrigens die Götter Inanna und An verehrt wurden). Nicht zuletzt wird der sumerische König Urnammu ziemlich eindeutig mit der biblischen Figur des Nimrod identifiziert, wofür aber alle historischen Belege fehlen. Nichtsdestotrotz mangelt es Graeve nicht an Selbstvertrauen, ist er doch zu ganz außergewöhnlicher argumentativer Leistung in der Lage, wie sich immer wieder in unbelegten Aussagen wie „Das ergibt sich aus den ungeschminkten Tatsachen“ äußert. Überhaupt wird nicht sonderlich viel darauf gegeben, die eigene Theorie zu belegen. Aus dem Nichtvorhandensein anderer Indizien (dies sei einmal dahingestellt) wird etwa stets gefolgert, ein degenerativer Prozess im eigenen Sinne hätte vorliegen müssen (z.B. „Tatsächlich muss sich in Alba Longa in der fraglichen Zeit ein umfassender ethischer Umbruch universalgeschichtlichen Zuschnitts, der schließlich zu seiner Selbstauslöschung führte, vollzogen haben“). Liegen aber andere Indizien vor, so werden diese als nicht hinreichend bzw. bloße Symptome des moralischen Verfalls dargestellt. Indes wird in keinerlei Weise begründet, wieso diese „moralischen Verfehlungen“ (wie immer man sie definieren mag) nicht selbst Symptom des vorliegenden Niedergangs sein könnten. Hier sei noch ein weiteres schönes Zitat genannt: „Der Autor ist weder ein Maya- noch ein Osterinsel-Spezialist, weder ein Archäologe noch ein Botaniker. Um sich ein wissenschaftliches Urteil über die Gründe des Scheiterns dieser Kulturen zu bilden, ist das auch nicht erforderlich.“ Doch, ist es. Andernfalls – und genau dies ist hier der Fall – handelt es sich nur um eine ideologische Lehre (vergleichbar etwa dem Kommunismus oder dem Sozialdarwinismus) und somit um ein dogmatisches Wahnsystem, nicht aber um eine wissenschaftliche Theorie.
Doch kehren wir noch einmal zurück zum Thema Weltanschauung. Folgende Zitate dürften für sich sprechen:

„Der Schlüsselbereich der Ethik, die Geschlechtsmoral, verkümmert, die Sitten entarten. Das eigentlich menschliche wird nicht mehr in der Beherrschung animalischer Triebe, sondern in deren Auslebung gesucht.“

„In den USA halten die Bewohner des Mittleren Westens an traditionellen Werten fest und sind ohne Falsch. Die Menschen der Ostküste und New Yorks gelten ihnen als verderbt, ohne dass ein solches Urteil aus der Luft gegriffen wäre.“

„Dabei ist gerade die schöpferische Pflege der Geschichtswissenschaften eine bleibende Großtat des deutschen Geistes.“

Keineswegs machen solche Bemerkungen den Großteil des Buches aus, der Gehalt liegt nichtsdestotrotz in dem Postulat eines universalen Phänomens moralischer „Entartung“, die immer wieder Hochkulturen zu Fall gebracht hat. Zwar bezieht sich dies stets auf vergangene Kulturen, doch sind Parallelen zu Ereignissen der jüngsten Vergangenheit oft nicht zu übersehen. Die Beschreibung des frühen römischen Kaiserreiches mit dem angeblichen Niedergang der alten Aristokratie lässt etwa an die Russische Revolution und die Zeit des Stalinismus denken (Jener ist zweifellos abzulehnen, doch in diesem Zusammenhang sollte man unbedingt die traditionelle Abneigung christlich-konservativer und nationalistischer Bewegungen gegenüber dem Kommunismus im Hinterkopf behalten). Grundsätzlich wird postuliert, in solcherlei Umbruchzeiten gebe es stets zwei miteinander streitende Bewegungen: Die Konservativen, die die gute alte Ordnung und somit das Fortbestehen der Blütezeit verteidigen, und die „Progressisten“ (hier eindeutig pejorativ verwendet, u.a. festzustellen an dem „isten“ bzw. „istisch“), die in Überzeugung, eine grundsätzlich bessere Welt zu schaffen, den Untergang der Kultur besiegeln. Letztere übernehmen somit trotz fehlender Homogenität die Rolle des Feindbildes (es wäre ja auch schwer gewesen, Juden oder Araber für den Untergang der Maya verantwortlich zu machen). Die Erhaltung althergebrachter Machtstrukturen und der traditionellen Situation wird letztendlich per se als wünschenswert dargestellt. Bei allen rechtsextremen Elementen ist dem Autor jedoch zugutezuhalten, dass er doch auf das Element des Rassismus verzichtet und auch das (in etablierten Theorien immer wieder aufgegriffene und mitunter gar nicht so unbedeutende) Eindringen fremder (oft weniger entwickelter) Völker als nicht wirklich ursächlich ansieht. Ob freilich auch der religiöse Aspekt im Sinne des christlichen Konservativismus eine Rolle spielt, bleibt indes mehr oder weniger offen. Zwar werden immer wieder Materialismus und Naturalismus als negative Verfallserscheinungen charakterisiert und ebenso die jeweilige traditionelle Religion verherrlicht, doch konkrete metaphysische Glaubensinhalte bleiben aus.
Die Erkenntnis, hier das irrational-ideologische Werk eines extrem Konservativen, womöglich gar Rechtsradikalen vorliegen zu haben, bleibt. Bezeichnend, dass die (bisher) einzige Bewertung auf Amazon von einem Nutzer namens K. Waldschrat stammt und folgendermaßen lautet:

„Ein Buch das fasziniert: Wissen pur, genial, interessant, eine Lektüre der Superlative!!!!!
Alle Bücher muss man gelesen haben!!
P E R F E K T !!!!“

Wenn es sich dabei nicht gerade um den Autor selbst handelt, dann wohl um eine jener kulturellen Entartungen, die in diesem Buch angeprangert werden.

 

Anmerkung: Da ich die (mittlerweile nicht mehr erhältliche) e-book-Version des Titels erwarb, war es mir nicht möglich, die zahlreichen Zitate mit Seitenangaben auszustatten. Dies bitte ich zu entschuldigen.

 

NACHTRAG:
Hans Graeve, der geehrte Autor persönlich, hat bei Amazon auf diese Rezension geantwortet. Was wiederum eine über tausend Wörter lange Antwort samt Beleidigung auf Sumerisch nötig machte. Erläuterungen sind unnötig, hier ist der Link:
https://www.amazon.de/review/R3T0E54IMEQMZX/ref=cm_cr_dp_title?ie=UTF8&ASIN=3957440483&channel=detail-glance&nodeID=299956&store=books

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