Die Himmelsscheibe von Nebra

Sie ist wahrscheinlich der prominenteste Fund deutscher Archäologie der letzten Jahrzehnte: Die sogenannte „Himmelsscheibe von Nebra“. Nicht nur das beeindruckende Objekt selbst und die effektive Vermarktung haben zu ihrem Ruhm beigetragen, sondern nicht zuletzt die spektakuläre Auffindungsgeschichte, die ohne Weiteres ein literarischer Thriller hätte sein können. Unter dem unmissverständlichen Titel „Die Himmelsscheibe von Nebra: Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas“ hat nunmehr Harald Meller, „Finder“, Verwahrer und Vermarkter der Himmelsscheibe, zusammen mit Kai Michel eine massentaugliche Monographie darüber verfasst.
Der erste Teil des Werkes ist der Himmelsscheibe selbst gewidmet: Die Geschichte ihrer Auffindung und Sicherstellung aus dem Raubhandel, allzu literarisch und damit außerordentlich packend und spannend erzählt, dann die Ergebnisse der zahlreichen daran durchgeführten Untersuchungen – nicht zuletzt, um vor Gericht die Echtheit und Bedeutung des Stückes zu beweisen – und schließlich auch die astronomische Interpretation. Letztere ist natürlich ein hochumstrittenes Thema, doch abseits der zahlreichen pseudowissenschaftlichen Erklärungsversuche scheint jene Deutung, die auch Meller & Co. präferieren, absolut plausibel. Im Anschluss an die Himmelsscheibe selbst werden weitere beeindruckende Fundkomplexe der sogenannten Aunjetitzer Kultur (v. a. mehrere Fürstengräber in Grabhügeln sowie Hortfunde) beschrieben, hochinteressant gleichsam die Funde, ihre Interpretation und die anschaulich dargestellte Forschungsgeschichte. Aus alldem (und weiteren Argumenten) schließt Meller die Existenz eines Königreiches schon in jener frühen Bronzezeit, das von einer mehrere Jahrzehnte währenden Dynastie geführt wurde. Vermutlich dürfte es dieser Punkt sein, an dem sich die übrige Fachwelt am ehesten reiben wird: Inwieweit die Belege ausreichen, ein wohlsituiertes Fürstentum, das zweifellos existiert hat, als „Königreich“ von größeren Ausmaßen zu deuten, mag zumindest zweifelhaft sein. So ist doch Harald Meller, selbst Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, auch aus anderen Forschungen bekannt für teils sehr spektakuläre Entdeckungen, deren Interpretation nicht immer ganz so eindeutig ist wie behauptet (z.B. die allzu detailliert „rekonstruierten“ „Ehrenmorde“ von Eulau).
Den teils recht sensationalistischen Charakter merkt man dem Buch bisweilen auch an, gerade in Bezug auf die Sicherstellung der Himmelsscheibe, die Rekonstruktion des mutmaßlichen Königreiches und die Spekulationen zur Herkunft des Objekts. All dies muss nicht falsch sein, ja ist in weiten Teilen durchaus plausibel, doch vielleicht manchmal etwas zu pathetisch aufbereitet – wobei gerade dies bisweilen durchaus ironisch erscheint. Oft hat man als Leser auch das Gefühl, der Ur- und Frühgeschichtler Meller leide als solcher unter gewissen Komplexen angesichts der frühen Hochkulturen in anderen Kulturkreisen (z.B. Mesopotamien), denen eine zwar nicht gleichartige, aber doch respektable „Alternative“ gegenübergestellt werden soll.
All dies vermag jedoch nicht über ein letztlich sehr informatives populärwissenschaftliches Sachbuch über eine hochinteressante Kultur der europäischen Bronzezeit mit ihren beeindruckenden Hinterlassenschaften hinwegzutäuschen. Besonders ist die anschauliche Kombination von Funden und Forschungsgeschichte zu loben, gerade auch bei den Aunjetitzer Fürstengräbern. Was hingegen eher fehlt, ist eine Darstellung der weniger spektakulären Fundstellen der Aunjetitzer Kultur: Siedlungen und Gräberfelder, gibt es so etwas überhaupt? Obgleich ansonsten sehr informativ und anschaulich, bleibt so doch ein nicht unwesentlicher Teil jener Kultur im Dunkeln, worüber man gerne mehr erfahren hätte. Wie jede auf den ersten Blick sensationelle Publikation der Archäologie sollte man auch „Die Himmelsscheibe von Nebra“ unbedingt kritisch lesen, doch lohnen tut sich die Lektüre auf jeden Fall.