Verbotene Ägyptologie

Schon Herodot war fasziniert von der uralten ägyptischen Hochkultur – und bis heute hat sich wenig daran geändert. So ist wohl auch keine andere Zivilisation mit so vielen grenz- und pseudowissenschaftlichen Theorien verbunden. Besonders die Pyramiden von Gizeh mussten schon für manchen erstaunlichen Zweck herhalten – als Kraftwerke, Kornspeicher, vorsintflutliche Archive oder gar Landemarkierungen für Außerirdische. Ein Paradefall für die grenzwissenschaftliche Ägyptenrezeption ist zweifellos das Werk „Verbotene Ägyptologie“ von Erdogan Ercivan. Die darin aufgestellten Thesen sind relativ schnell umrissen: Es gab schon vor Urzeiten eine hochtechnisierte Zivilisation als Vorläufer des antiken Ägypten, die etliche Jahrtausende vor die ersten bekannten Hochkulturen zurückreicht. Alle nennenswerten kulturellen Erfindungen wurden zuerst von dieser Kultur oder aber den Ägyptern gemacht, einschließlich Strom, Radioaktivität und der Entdeckung Amerikas und Australiens. Pyramiden und Sphinx sind natürlich viele Jahrtausende älter und auf keinen Fall von Cheops oder Chephren erbaut. Und bis heute gibt es systematische Bestrebungen, dieses Wissen zu unterdrücken, wobei die Vertreter der akademischen Wissenschaft keine Ahnung haben und/oder bewusst alle neuen Erkenntnisse vertuschen.

Wer nun auf den ersten Blick plausible Archäologie-Mystik im Stile Erich von Dänikens erwartet, wird herbe enttäuscht – diese Qualität nämlich erreicht Ercivan bei weitem nicht. So scheitert sein Werk zunächst einmal schon an der Form: Es gibt nicht wirklich abgegrenzte Kapitel oder Argumentationsgänge – vielmehr wird rein assoziativ von einem Gedanken zum benachbarten nächsten gesprungen, wie man es normalerweise allenfalls in einem Einleitungskapitel praktiziert: A ist so, A hängt zusammen mit B, B erinnert an C, in Quelle C fand man aber auch Information D … Insofern enthält das Buch zwar sehr viele, auch richtige Informationen zu unserer Vorgeschichte – doch sind diese zumeist für die (sollte man meinen) zugrundeliegende Argumentation völlig irrelevant. Oft wird gar nicht klar, was genau Ercivan mit einer Information eigentlich belegen will – stringente Beweisführungen sucht man weitgehend vergebens.

So dauert es auch über hundert Seiten, bis erstmalig tatsächlich (mutmaßliche) Funde präsentiert werden, die das etablierte wissenschaftliche Weltbild ins Wanken bringen könnten; bis dahin bleibt es überwiegend bei Behauptungen, Suggestivfragen und traditionell verschwörungstheoretischem Wissenschaftler-Bashing. Dabei kristallisieren sich einige charakteristische Argumentationsmuster heraus: Etwas hat irgendwie Ähnlichkeit zu einem Sachverhalt der altägyptischen Kultur, also stammt es ursprünglich aus dieser. Ein Wort klingt ähnlich wie ein beliebiges ägyptisches Wort, also ist das Ding eine ägyptische Erfindung – und die Bedeutung des ägyptischen Wortes verrät weiteres über seine Eigenschaften. Irgendetwas wurde irgendwann einmal von einem Wissenschaftler geschrieben – also kann man es je nach Fasson als unzweifelhaftes Faktum oder als Beweis für den Irrtum der gesamten wissenschaftlichen Zunft sehen. Eine weitere Eigenart Ercivans ist es, kuriose und beeindruckende, aber tatsächlich von niemandem in Frage gestellte Fakten als revolutionäre Erkenntnisse zu präsentieren, die die Wissenschaft nicht wahrhaben wolle – so beispielsweise die Zählsteine des altorientalischen Neolithikums (111), astronomische Kenntnisse und Schädeltrepanation in der Steinzeit etc. Wenn neue Funde alte Theorien widerlegen (das Grundprinzip der Wissenschaft), so stellt er dies suggestiv als Belege gegen die wissenschaftliche Lehrmeinung dar (die sich den neuen Belegen ja meist einfach anpasste).
Die sogenannte „Verbotene Archäologie“, mir zuvor nur als sensationsheischende Genre-Bezeichnung innerhalb der Grenzwissenschaften bekannt, ist Ercivan zufolge eine fast schon institutionalisierte Wissenschaft, die nur von einer kleinen Gruppe Eingeweihter praktiziert wird, welche sich an „vorherbestimmten Treffpunkten“ zur Diskussion kontroverser Funde zusammensetzen (92, 97). solcherlei verschwörungstheoretisches Gedankengut von geheimen Fraktionen und verheimlichten Fakten (natürlich nicht ohne im Kontext irrelevante Erwähnung der Freimaurer) zieht sich durch das ganze Buch.

Wo tatsächlich einmal Funde genannt werden, die den Theorien des wissenschaftlichen Mainstreams direkt widersprechen, da fehlen Quellen oder sind denkbar unscharf: „Darüber hinaus ist mir aus sicherer Quelle bekannt, daß in Gisr-el-Mudir eine unterirdische Anlage mit Tempelsäulen entdeckt wurde, die mit einem modern anmutenden Hydraulikmechanismus ausgestattet sind“ (93). Zwar gibt es sogar ziemlich häufig wörtliche Zitate im Text, von Wissenschaftlern und aus alten Überlieferungen – doch nur seltenst werden die exakten Quellen genannt, was diese Aussprüche faktisch unbrauchbar macht. Einzig Papyri werden öfters spezifisch benannt, mesopotamische Überlieferungen oder Aussagen von Wissenschaftlern hingegen nie. Aussagen von Wissenschaftlern gibt es dabei sehr wohl, bisweilen auch kritische – doch werden jene, selbst wenn sie Argumente nennen, stets trivial beiseite gewischt, allenfalls noch durch implizierte Verschwörungsthesen abgelehnt, während bestätigende Aussagen stets für bare Münze genommen werden, auch und gerade wenn sie nur Behauptungen und keine Argumente enthalten.
Auch wenn der Großteil des Buches aus rein assoziativ verbundenen Informationen ohne wirklichen argumentativen Wert besteht, so nennt Ercivan doch schließlich in der Tat einige Funde, die, wenn die vorgebrachten Aussagen stimmen, so manche bisherige Vorstellung von der Menschheitsgeschichte über den Haufen werfen würden. Darunter sind einerseits einige Klassiker, die immer wieder in den Grenzwissenschaften zitiert werden – wie die „Glühbirnen von Dendera“ und das Yonaguni-Monument -, aber auch einige, von denen ich zuvor nicht gehört hatte. Bei jenen handelt es sich überwiegend um Gebäude oder Schriftdenkmäler, denen schlichtweg ein wesentlich höheres Alter zugeschrieben wird als bislang, was sie jeweils in gewisse Perioden der Steinzeit (bzw. der hypothetischen vorzeitlichen Hochkultur) datieren würde. Dazu kann man jedoch in der Regel erst einmal wenig sagen, denn es fehlen explizite und verlässliche Quellen für die vorgebrachten Informationen. Sicherlich würde sich eine nähere Untersuchung und Diskussion so mancher dieser Funde lohnen – doch ist der Autor offensichtlich weder willens noch fähig dazu, zumal dies dem populärwissenschaftlichen Anspruch des Werkes schaden könnte. Manche Funde wie etwa das Megalithgrab von Newgrange werden zwar recht ausführlich dargestellt, bei anderen aber wundert die trotz potentiell revolutionärem Gehalt sehr oberflächliche, ja nebensächliche Darstellung (z.B. 144: Ägypter experimentierten mit Radioaktivität).

Und wie es in den Grenzwissenschaften Sitte ist, wenngleich nicht zwangsläufig so extrem, gilt bei Ercivan doch grundsätzlich jede Überlieferung oder These als glaubwürdig, wenn sie nur ein gewisses Alter hat. Seien es antike Mythen – oder auch andere alte, doch nicht SO alte Aussagen wie die eines arabischen Historikers des Mittelalters über die Pyramiden und die Sphinx sowie eines englischen Hofarchitekten des 16. Jhds. über die Ursprünge von Stonehenge (zu deren Zeiten die wahre Bedeutung der Monumente längst vergessen war). Keine Stelle aber bringt seinen Umgang mit Quellen besser auf den Punkt als folgende:

„Bezeichnenderweise will sich kein Wissenschaftler mit Reputation mit den in Mythen überlieferten Fakten ernsthaft beschäftigen. Dabei hätten sie durchaus eine Legitimation dafür. Denn bereits 1865 [sic!] schrieb der hochangesehene Professor Alfred Wollheim da Fonseca über seine unzähligen Untersuchungen zur Mythologie: ‚Derjenige hat keine Ahnung von der Bedeutung, der hier nur unsinnige Fabeln und schöne Allegorien erblickt. Die Mythologie ist etwa ganz anderes: Sie ist der erhabenste Ausdruck der erhabensten Wahrheit. Eigentlich ist sie sogar weit mehr: Sie ist auch die Urgeschichte der Menschheit.“ (133-134)

Merke: Wenn ein Mann vor über hundert Jahren in einem protowissenschaftlichen Zeitalter Mythen sehr erhaben fand, dann musst auch du sie ernst nehmen. Was Erdogan Ercivan indes von den von mir hier so sehnsüchtig bemühten wissenschaftlichen Standards hält, wird an anderer Stelle klar:

„Deshalb wimmelt es in philologischen Fachbüchern von Erläuterungen und der heutigen Gesellschaftsordnung angepaßten Interpretationsversuchen der Gelehrten, die entweder in eckigen Klammern stehen oder in den sogenannten Fußnotenteil verbannt werden. Der interessierte Leser versinkt bei seinem Studium an diesen Textüberlieferungen im tiefen Morast akademischer Wichtigtuerei!“

Abseits all dieser vielen methodischen Unschönheiten finden sich jedoch auch simple Sachfehler in dem Buch: Seite 56 etwa zeigt einen bekannten sumerischen Statuenkopf, ohne jede Begründung als „Das älteste Volk von Jericho“ betitelt (nein, die Sumerer hatten nichts zu suchen im Jahrtausende vor ihnen florierenden Jericho). Laut Seite 65 stammen Schnabeltiere von Nagern ab (aber wieso legen sie dann Eier?). Das babylonische Epos Enuma Eliš ordnet er völlig anachronistisch den (viel früheren) Sumerern zu (127), den Unhold Humbaba aus dem Gilgamesch-Epos beschreibt er entgegen den Überlieferungen als „feurigen Stier“ und zeigt dazu noch zwei Siegelbilder ohne jede Verbindung zum Gilgamesch-Epos (148f). Soweit nur einige, die direkt ins Auge springen.

Was also bleibt im Fazit? Erdogan Ercivan nennt in der Tat eine ganze Reihe faszinierender Funde und Überlieferungen. Indes machen es seine selektive Auswahl von Fakten, selektive und willkürliche Quellenbewertung, der Hang zur Postulierung von Zusammenhängen auf rein assoziativer Basis, zutiefst dogmatisch-verschwörungstheoretisches Gedankengut sowie vor allem das grundsätzliche Fehlen konkreter Belege unmöglich, irgendetwas von all dem ohne aufwendige eigene Recherchen ernst zu nehmen, selbst wenn es einem gelänge, aus der völlig unübersichtlichen und zusammenhanglosen Textstruktur ohne jeden roten Faden einen konkreten Gehalt zu extrahieren. Ein Buch also, das mehr über geistige Strömungen unserer Zeit aussagt als über das Zeitalter der alten Ägypter.