The First Fossile Hunters

Seit langem schon versuchte das mächtige Sparta, die Nachbarstadt Tegea zu erobern – erfolglos. Um Rat gefragt, erwiderte das Orakel von Delphi, Tegea werde erst dann fallen, wenn die Gebeine des Helden Orestes, Sohn des Agamemnon, gefunden und nach Sparta gebracht würden. Und tatsächlich fand man schließlich in Tegea einen Sarg von sieben Ellen Länge (ca. 3,3m), darin ein Skelett von ebensolcher Größe. Der Heros war gefunden, Sparta triumphierte.
Diese Geschichte, die der griechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet, ist kein Einzelfall. Immer wieder, über die gesamte römisch-hellenistische Welt verstreut, tauchten im Laufe der Jahrhunderte riesige Knochen auf, die nur von vorzeitlichen Heroen, Riesen oder Ungeheuern stammen konnten. Haben sich die antiken Autoren all dies nur ausgedacht, ist all dies nur Mythos ohne realen Kern? Oder gab es, wie manche Grenzwissenschaftler behaupten, tatsächlich einst ein Geschlecht von Giganten auf der Erde?
In ihrem Buch „The First Fossile Hunters“ bietet Adrienne Mayor eine alternative Deutung an: Kann es nämlich ein Zufall sein, dass fast alle überlieferten Fundorte riesenhafter Knochen sich decken mit heute als solchen bekannten Fossillagerstätten? Wie dieses faszinierende Buch zeigt, waren Fossilien, die versteinerten Überreste vorzeitlicher Lebewesen, den alten Griechen und Römern alles andere als unbekannt – einzig die Deutung unterschied sich von der unseren.
So lassen sich die scheinbaren Heroengebeine mutmaßlich auf Überreste von Mammuts und Mastodonten zurückführen, die man mit etwas Kreativität nur allzu leicht in humanoider Stellung auslegen kann. Auf Samos indes berichtet sogar schon der Mythos, wohl inspiriert von riesenhaften Knochen in der Erde, von als Neaden bezeichneten Ungeheuern, die durch ihr lautes Geschrei den Erdboden spalteten und darin versanken. Am beeindruckendsten aber dürfte Adrienne Mayors Deutung des Greifen sein: Über Jahrhunderte gehörte dieses Fabelwesen, das im fernen Osten Gold bewachte, zum Weltbild der Griechen, ohne je Teil der Mythologie zu werden. Diese Überlieferungen dürften auf die Skythen zurückgehen, die schon damals bis in die fernen Weiten Asiens reisten und Handel trieben – bis in die Wüste Gobi, die nicht nur wertvolles Gold, sondern allzu oft auch Skelette des Dinosauriers Protoceratops freigibt. Wie die Autorin penibel darlegt, kann es kaum einen Zweifel an einer Verbindung der beiden vierbeinigen, mit Vogelschnäbeln ausgestatteten Geschöpfe geben.
Allzu oft müssen Historiker und Mythosforscher kapitulieren, wenn sie den letztendlichen Ursprung eines Mythos oder einer Sage suchen. „The First Fossile Hunters“ indes bietet allzu logische, fundierte – und außerdem spannende – Deutungsangebote, um zumindest einige der alten Überlieferungen zu dekonstruieren. Doch mehr noch – Mayor zeichnet außerdem ein faszinierendes Portrait des damaligen Umgangs mit fossilen Überresten. Es gab bereits Rekonstruktionsversuche und teils allzu wahrheitsgemäße Deutungen; auch das Konzept des Aussterbens von Arten ist kaum eine Erkenntnis der Neuzeit. Die römischen Kaiser Augustus und Tiberius stellten sogar buchstäblich ein Museum auf die Beine, um jene geheimnisvollen Relikte der Vorzeit zu sammeln.
Leider ist das Buch bislang nur auf Englisch erschienen, doch dieses ist eingängig und gut zu lesen. Zur Freude jedes wissenschaftlich interessierten Lesers werden die unzähligen Quellen penibel aufgelistet und sorgsam kommentiert (in Fußnoten, ohne den Lesefluss zu stören); sämtliche relevanten Stellen der Primärquellen sind im Anhang sogar noch gesondert gesammelt.
All dies ergibt letztlich eines der interessantesten mir bekannten Bücher zur Mythologie und alten Geschichte (kombiniert es doch mit Paläontologie und Altertumswissenschaft gleich zwei meiner zentralen Interessen) – ein Werk, das buchstäblich die Augen öffnet für eine ganz neue Dimension der Mythosforschung. Man kann nur hoffen, dieser Ansatz möge auch andere Forscher zur Neubetrachtung manch alter Quellen inspirieren. Die Ambitionen sollten sich wohl mobilisieren lassen – wer kann schon von sich behaupten, den Ursprung des Greifen entdeckt zu haben?

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