Sex und Perversion im Cthulhu-Mythos

Lovecraft und Sex, das ist so eine Sache. Gibt es denn überhaupt Sexualität in den zum „Cthulhu-Mythos“ gezählten Geschichten, die Horrorlegende H. P. Lovecraft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasste? Die Antwort kann nur lauten: Überall und gar nicht.
Bei wenigen Autoren dürfte das Verhältnis zu dahingehenden Elementen so umstritten und ambivalent sein wie bei Lovecraft. Ganze Geschichten rund um Thematiken wie Inzest, Rassenmischung und sogar die Zeugung von Hybridwesen durch Menschen und außerweltliche Wesen – und doch nicht eine explizite Szene im gesamten Lebenwerk, nicht eine Geschichte mit romantischen Thematiken und ganz allgemein ein erstaunlicher Mangel an weiblichen Figuren. Ebenso gibt die Persönlichkeit und Sexualität des anscheinend weitgehend asexuellen Autors selbst bis heute Rätsel auf. Und dann wäre da noch die ganze Schar an Autoren, deren Werke in direkter Tradition Lovecrafts stehen, doch manches wesentlich expliziter angehen. Grund genug, eine umfangreiche Abhandlung über all dies zu verfassen. Bobby Derie hat es getan: „Sex und Perversion im Cthulhu-Mythos“ heißt das Werk, mit stolzen 480 Seiten erschienen im Festa-Verlag.
Das Buch teilt sich in mehrere Bereiche: 1. Lovecraft selbst und das, was man aus den verfügbaren Quellen zu seiner Sexualität entnehmen kann; 2. Einschlägige Thematiken in seinen Werken (und einigen ihn inspirierenden Vorgängern), 3. Selbige im durch unzählige Autoren erweiterten Cthulhu-Mythos von den Zeitgenossen Robert E. Howard und Clark Ahton Smith über August Derleth, Ramsey Campbell etc. bis hin zu Edward Lee und Alan Moore sowie 4. Die Beziehung von Cthulhu-Mythos und Sexualität in allen anderen Medien von Comic und Filmen bis hin zu Internetkultur und von Lovecraft inspirierten okkultistischen Strömungen (ja, die gibt es wirklich). Das ist ein riesiger Batzen Material – Hochachtung für den Autor, der das alles zu lesen und zu interpretieren hatte! – und trotzdem unmöglich vollständig, wo sich doch längst ein ganzes Genre aus dem Erbe Lovecrafts entwickelt hat. Trotzdem dürfte das (für meinen Geschmack definitiv ausreichende) Material die Thematik umfassend, wenn nicht erschöpfend behandelt haben mit dem Potenzial, ein neue Standardwerk in diesem Bereich der Literaturwissenschaft zu werden. Tatsächlich verbirgt sich hinter dem Titelthema indirekt eine ganze Kulturgeschichte des Cthulhu-Mythos (und nebenbei auch dem Vorkommen von Tentakeln in erotischen Medien) und gibt jedem Fan nebst einem allgemeinen Überblick so einige interessante neue Einblicke, ganz ab von Sex und Perversion. Freilich kommen letztere keinesfalls zu kurz: Auf Analysen aller in Betracht kommenden Lovecraft-Geschichten folgen Kapitel über allgemeine Thematiken und Motive, selbige anschließend auch in Bezug auf die übrigen Autoren und ihre Tendenzen.
Positiv hervorzuheben ist auch die sachliche, nicht von irgendwelchen Theorien oder Überzeugungen verfälschte Art des Autors, nur leicht durchbrochen von bewusst positiven Urteilen über manche spätere Mythos-Autoren, weshalb in diesen eben kein bloßer Schund zu sehen sei. Zwar bedingt die Form unweigerlich auch einmal Längen (die wahrscheinlich jeder irgendwo anders ausmachen wird), doch im Großen und Ganzen liest sich auch dieses dicke literaturtheoretische Sachbuch flüssig bis unterhaltsam. Definitiv eine Bereicherung für am Cthulhu-Mythos Interessierte (und, wie eigentlich klar sein sollte, nur für diese) – ein Buch, das zeigt, dass die einschlägige Tradition in Lovecrafts Werk und Erbe weit mehr zu bieten hat als doppeldeutige Tentakel.

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